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»A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in frühneuzeitlichen Verwaltungen

»A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in... Innovation ist eines der schillernden Schlagworte der Gegenwart. Der Begriff birgt das verheißungsvolle und zugleich diffuse Versprechen von Produktivität, Kreativität, Effizienz und Fortschrittlichkeit.Jan Fagerberg: Innovation Studies – the emerging structure of a new scientific field, in: TIK Working Papers on Innovation Studies No. 20090104, online unter: http://ideas.repec.org/s/tik/inowpp.html, (15. 01. 2021), S. 1. Für kritische Lektüre und Anmerkungen danken wir ganz herzlich Matthias Pohlig.Auch historisch arbeitende Disziplinen können den Verlockungen des Innovationsbegriffes offenbar nur schwer widerstehen.Das Gros der Arbeiten im Feld der innovation studies stammt traditionell aus den Wirtschaftswissenschaften, vgl. Fagerberg: Innovation Studies, S. 36.Eine oberflächliche Recherche im RI-OPAC, einer Literaturdatenbank mit Schwerpunkt „Mittelalter“ und „Frühe Neuzeit“, liefert beachtliche 1021 Einträge. Dabei wird ein breites Spektrum an Themen unter dem Begriff der Innovation verhandelt: Es finden sich Studien zu technologischen Innovationen, zu ideen- und wissensgeschichtlichen Themen, aber auch sozialgeschichtliche Arbeiten mit Fokus auf Migration und Austauschprozesse und nicht zuletzt biografische Annäherungen an einzelne Herrscherpersönlichkeiten. In den meisten Fällen wird der Begriff der Innovation hier recht unspezifisch als Synonym für Veränderung und Wandel verwendet. Besonders deutlich ist dies etwa in der begrifflichen Kopplung von »Tradition und Innovation« (immerhin stolze 142 Titel), die in der Regel eine sehr unbestimmte Spannung zwischen alt und neu beschreibt. Diese begriffliche Unschärfe ist häufig konstitutiv, auch dann, wenn der Innovationsbegriff weniger beiläufig verwendet wird. Die Frühe Neuzeit, so etwa Anselm Steiger, Sandra Richter und Marc Föcking, sei die »Geburtsstunde der Innovation«, wenngleich die Autoren darauf hinweisen, dass es zeitgenössisch den Begriff in seiner heutigen Verwendung noch nicht gegeben habe.Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking: Einleitung, in: Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking (Hg.): Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kulturund geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa, Amsterdam 2010, S. 7–14, hier S. 8.Nun kannte die Frühe Neuzeit durchaus den Innovationsbegriff in einem auf Neuerung abzielenden Sinn. So wird etwa bei Edmund Coote in seinem »The English School-Master« von 1596 Innovation als »making new« definiert.Edmund Coote: The English Schoole-maister (1596), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: https://leme.library.utoronto.ca/lexicon/entry/216/793 (15. 01. 2021).Samuel Johnson hingegen beschreibt »innovation« 1755 als »change by the introduction of novelty«.Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language (1755), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: https://leme.library.utoronto.ca/lexicon/entry/1345/20477 (15. 01. 2021).Ähnliche Verwendungen finden sich in zahlreichen frühneuzeitlichen Wörterbüchern. Wenngleich der Begriff also in seiner auf Neuerung und Veränderung abzielenden Bedeutung verbreitet war, und zwar vor allem im Englischen und Französischen, so wurde er doch diskursiv anders gerahmt als in der Gegenwart. Denn Innovationen besitzen in einem modernen Verständnis zwei zeitliche Indikatoren: Einerseits verweisen sie auf »das Neue« und andererseits – und dies wird in Arbeiten mit historischem Zuschnitt häufig unterschlagen – auf eine offene, gestaltbare Zukunft.Harald Müller/Florian Eßner: Wissenskulturen – Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Eine Einführung, in: Harald Müller / Florian Eßner (Hg.): Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation, Kassel 2012, S. 13–18, hier S. 13.Diese in den modernen Innovationsbegriff eingeschriebene Perspektive auf eine offene Zukunft gilt allerdings nicht universal, sondern ist selbst Ergebnis eines langfristigen Wandels von Zeitkonzeptionen in der Frühen Neuzeit.Benoît Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation over the Centuries, London 2015.Anders als in der Moderne operieren die beiden zeitlichen Indikatoren von Innovation, das Neue und die Zukunft, in der Frühen Neuzeit unter umgekehrten Vorzeichen: Das Neue galt, idealtypisch zugespitzt, als das Schlechte; und die Zukunft war, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, keine offene, gestaltbare Zukunft, sondern eine sich dem Vorgriff entziehende, geschlossene Zukunft. In der Anwendung des Begriffs der Innovation auf die Frühe Neuzeit ist folglich Vorsicht geboten. Er birgt normative Konnotationen, die für die Frühe Neuzeit nur eingeschränkt gelten. Zugleich finden sich selbstverständlich auch in der Frühen Neuzeit auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Gesellschaftsbereichen Wandel, Neuerungen und Veränderungen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Verwaltungen – die in diesem Heft im Fokus stehen. Um dieser Spannung methodisch zu begegnen, muss genauer zwischen der rhetorischen und diskursiven Rahmung von Veränderung und inneradministrativen Veränderungen und Neuerungen unterschieden werden.Vgl. zur Beschreibungssprache von Veränderungsprozessen etwa den kürzlich erschienenen Band Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020.Ausgangspunkt des Beitrages ist die Annahme, dass sich der Innovationsbegriff in besonderer Weise als analytisches Instrument eignet, um die Besonderheiten frühneuzeitlicher Reform- und Veränderungsprozesse in den Blick zu rücken. Dem zugrunde liegt die Beobachtung, dass alle Veränderungsrhetorik grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu tatsächlichen Veränderungen, Wandel und Reformen steht. Aufgrund seiner normativen Aufladung in der Moderne wie der Vormoderne wird am Begriff der Innovation am eindrucksvollsten deutlich, dass analytische Veränderungsbeschreibungen einer sorgfältigen Kontextualisierung bedürfen. Der Blick auf Innovation als Begriff und analytische Kategorie erlaubt es entsprechend, in diachroner Perspektive grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Verwaltung und Veränderung aufzuwerfen. Statt »Innovationen« zu universalisieren, möchte der Beitrag den Begriff analysieren und damit verbundene Zeit- und Zukunftskonzeptionen freilegen. Zugleich sollen aus einer praxeologischen Mikroperspektive Wandlungsprozesse in Verwaltungen untersucht werden. Der Artikel ist damit auch ein Beitrag zur jüngeren Kulturgeschichte der Verwaltung, die zum einen zurecht vor älteren Narrativen der Modernisierung warnt und stattdessen ihr Augenmerk auf die Kontextualisierung einzelner Verwaltungspraktiken gerichtet hat.Vgl. stellvertretend und neuere Ansätze summierend Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014.Der Beitrag argumentiert – am Beispiel der Innovation – für heuristische Sorgfalt mit analytischen Veränderungsbegriffen, da sie zum einen häufig Modernisierungsnarrative bedienen, und zweitens zeitgenössisch in der Regel selbst normativen Wertungen unterliegen, die ihr Verhältnis zu tatsächlichem administrativem Wandel als spannungsgeladen markieren.Um das spannungsreiche Verhältnis von Innovation und Verwaltung in der Vormoderne zu untersuchen, rücken wir sprachliche, performative und dingbezogene Verwaltungspraktiken in den Mittelpunkt. Die Beispiele betreffen überwiegend England in der Frühen Neuzeit. Um das Verhältnis von Wandel, Zeitlichkeit und Innovationen zu vermessen, gehen wir in drei Schritten vor. Zunächst werden einige methodische und konzeptionelle Vorüberlegungen diskutiert, wohingegen wir uns in einem zweiten Schritt den Semantiken von Wandel nähern. In einem dritten Schritt schließlich werden Verwaltungspraktiken auf ihr Verhältnis zu Innovationen und Neuerungen untersucht. Methodisch orientiert sich der Beitrag an begriffsgeschichtlichen Befunden, an organisationssoziologischen Überlegungen zur Informalität beziehungsweise Formalisierung von Verwaltungshandeln und an jüngeren Arbeiten zur Praxeologie der Verwaltung. Mit diesem Zuschnitt verfolgt der Beitrag zwei Ziele: Zum einen soll ein tiefergehendes Verständnis für die Eigenlogiken und Dynamiken frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns gewonnen werden. Zum anderen kann auf diese Weise das Potenzial des Begriffsfeldes Innovation – Neuerung – Wandel für die historische Analyse ausgelotet werden.Innovation, Wandel und ZeitlichkeitÜblicherweise werden Innovationen als technologische oder soziale Neuerungen definiert.Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, in: EconStor, online unter: http://hdl.handle.net/10419/50299 (15. 01. 2021).Klassisch ist immer noch die Definition von Joseph Schumpeter, der Innovation als »the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way (innovation)« beschreibt.Joseph Alois Schumpeter: The Creative Response in Economic History, in: The Journal of Economic History 7/2 (1947), S. 149–159, hier S. 151.Während die technologische Innovation, etwa die Einführung eines neuen Produkts oder einer neuen Technologie, sich noch einfach greifen lässt, sind soziale Innovationen weitaus schwieriger zu fassen.Gillwald: Konzepte sozialer Innovation; Wolf Rainer Wendt: Soziale Innovationen —Innovation des Sozialen. Begriff und Geschäft der Neuerung im Kontext der Sozialwirtschaft, in: Sozialer Fortschritt 65/1,2 (2016), S. 10–16. Für eine stärkere Integration des privaten und öffentlichen Sektors in das Feld der innovation studies plädiert auch Fagerberg: Innovation Studies, S. 38.So vielversprechend der Begriff der Innovation auf den ersten Blick ist, so sehr entzieht er sich bei näherem Nachdenken jedoch einer genaueren Bestimmung: Handelt es sich auch bei sozialen Innovationen um klar benennbare Gegenstände, und lassen sich mit dem Begriff auch langfristige strukturelle Veränderungen fassen? Was genau braucht es für Innovation, und wer bestimmt dies? Zugleich birgt der Begriff eine gewisse analytische Verheißung: Er verspricht Erklärungskraft mit Blick auf Prozesse von Veränderung und Wandel. Der Begriff der Innovationen ist also einerseits positiv aufgeladen, andererseits ist jedoch häufig unklar, was genau unter einer Innovation verstanden wird, und wie Innovationen von alternativen Begriffen wie etwa Neuerung, Wandel oder Reform abgegrenzt werden können. Bei aller konzeptionellen Uneindeutigkeit ist zugleich klar, dass Innovation offensichtlich etwas mit Zeitlichkeit zu tun hat. Wer von Innovation spricht, meint in aller Regel eine wie auch immer geartete Veränderung und Neuerung, die eine unbestimmte Zukunft verbessern soll.Müller/Eßner: Wissenskulturen, S. 13.Bekanntermaßen hat Reinhard Koselleck die Geburt der »offenen Zukunft« in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und die Sattelzeit gelegt.Reinhart Koselleck: Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Koselleck / Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269–82. bes. S. 278–281 sowie Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 21992. Siehe hierzu auch Christian Link: Zukunft, Vergangenheit in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 146–1436; Daniel Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ›Sattelzeit‹ zu überwinden, in: Wolfgang Breul/Jan Carsten Schnurr (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Göttingen 2013, S. 141–172, bes. S. 141–147.In dieser Zeit öffne sich der Zukunftshorizont endgültig für Fortschrittsglauben und Gestaltbarkeit, während die älteren religiös-prophetischen Zukunftsvorstellungen (die auf einen geschlossenen Zukunftshorizont verwiesen) langsam verblassten. Diese Gegenüberstellung von vormoderner und moderner Zukunftsvorstellung ist natürlich höchst schematisch, und in jüngerer Zeit sind Stimmen lauter geworden, die für eine flexiblere Betrachtung von frühneuzeitlichen Zeitkonzeptionen und vor allem auch Zeitpraktiken plädieren und eine zu enge Fokussierung auf eschatologische Zeithorizonte hinterfragen.Grundsätzlicher zum Problem Wandel und Zeitlichkeit Matthias Pohlig: Wandel und seine Repräsentation, in: Jörg Baberowski (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt am Main 2009, S. 37–61; Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹, S. 147; Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller: Die Autorität der Zeit, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Münster 2007, S. 9–22, bes. S. 12; Stefan Hanß: The Fetish of Accuracy: Perspectives on Early Modern Time(s), in: Past and Present 243 (2019), S. 267–284.Dennoch kann man heuristisch annehmen, dass Innovation in der Frühen Neuzeit eher als problematische Kategorie angesehen wurde. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie von Benoît Godin, der die normativen Konnotierungen des Innovationsbegriffes in diachroner Perspektive untersucht hat. Er zeigt darin, dass Innovation niemals als neutrale Beschreibungskategorie von Veränderungsprozessen fungierte, sondern jenen Prozessen stets eine bestimmte Werthaftigkeit unterstellte. Für den vorliegenden Kontext ist dabei zentral, dass Innovation in der Vormoderne überwiegend negative Implikationen trug, als rhetorische Waffe fungierte und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam seine heutigen, in aller Regel emphatisch positiven Konnotationen erwarb.Godin: Innovation Contested.Aber auch für moderne Prozesse der Veränderung, in Verwaltungen und andernorts, ist nicht davon auszugehen, dass sie mit jenen positiven Implikationen des Begriffs in eins fielen: Auch in der Moderne muss zwischen einer Innovations-Rhetorik auf der einen und alltäglichen Formen von Veränderungen und Neuerung unterschieden werden.Nimmt man diese Überlegung ernst, dann ergibt sich eine interessante kulturgeschichtliche Forschungsperspektive auf eine Geschichte der Innovation. Innovationen sind, so die Ausgangsüberlegung, keine objektiven und überzeitlichen Phänomene, die durch den findigen Historiker oder die findige Historikerin sichtbar gemacht werden müssen, sondern sie sind bereits auf der begrifflichen Ebene eng mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Wandel, Veränderung und Neuerung verbunden. Denn Veränderungen im Allgemeinen und Innovationen im Besonderen entstehen selten aus dem Nichts, sondern es existieren gewisse normative Rahmungen, Ressourcen, Wissensordnungen und institutionelle Arrangements, die soziale und technische Neuerungen wahrscheinlicher machen.Jan Fagerberg: Innovation. A Guide to Literature, Working paper version of the introductory chapter in »Oxford Handbook of Innovation«. Presented at the Workshop »The Many Guises of Innovation. What we have learnt and where we are heading«. Ottawa, October 23–24, 2003, organized by Statistics Canada, online: http://folk.uio.no/janf/downloadable_papers/03fagerberg_innovation_ottawa.pdf (15. 01. 2021), S. 11f.; ähnlich auch Jerald Hage: Die Innovation von Organisationen und die Organisation von Innovationen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11/1 (2000), S. 67–86.Obwohl also die positive Wahrnehmung von Innovationen mit ihrem klaren zeitlichen Fokus auf eine veränderbare Zukunft der Vormoderne fremd ist, finden sich zugleich natürlich auch in der Frühen Neuzeit auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Gesellschaftsbereichen Wandel, Neuerungen und Veränderungen. Diese wurden lediglich diskursiv anders gerahmt als in der Moderne. Dies gilt insbesondere für frühneuzeitliche Verwaltungen, die, wie zu zeigen sein wird, rhetorisch jeder Form von auf die Zukunft ausgerichtetem Wandel überaus skeptisch gegenüberstanden. In jedem Fall ist Vorsicht angebracht, nicht durch die Benutzung des Innovationsbegriffs in ein konventionelles teleologisches Fortschrittsnarrativ zu verfallen und Neuerungen in Verwaltungen zweckrationalistisch in einen Kontext von Modernisierung, Rationalität und Effizienz zu stellen. Entsprechend ist es problematisch, gewisse Veränderungen ex post als Innovationen zu deklarieren.Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei grundlegende methodische Konsequenzen: Zum einen müssen die institutionellen Rahmenbedingungen untersucht werden, die Veränderung, Wandel und Neuerung ermöglichen (oder verhindern). Zugleich bedeutet dies für historisch arbeitende Disziplinen aber eben auch, zeitgenössische Zeitkonzeptionen und Perspektiven auf Veränderung und Wandel zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass es nicht nur gewisser struktureller Rahmungen bedarf, die Innovationen begünstigen, sondern auch eines gewissen mindset, nämlich einer positiven Sicht auf die Zukunft als offenen, durchaus fragilen, aber dennoch gestaltbaren Raum. Statt also Innovationen isoliert und dekontextualisiert zu betrachten, soll im Folgenden das Spannungsfeld von Wandel, Innovation und Zeitkonzeptionen im frühneuzeitlichen England betrachtet werden.Semantische AushandlungenFragt man nach Innovationen in Verwaltungsorganisationen der Frühen Neuzeit, ergibt sich zunächst ein semantischer Befund: Wenig überraschend angesichts der fortschrittsaversen Haltung frühneuzeitlicher Gesellschaften war Innovation ein durchweg negativ besetzter Begriff. Er signalisierte den Bruch mit dem Hergebrachten und der Tradition zugunsten von Veränderungen, die, anders als das Bestehende, nicht durch die Prüfung der Zeit gegangen waren. Dieses konkrete Verständnis des Begriffs leitet sich aus dem klassischen Latein ab: Während renovatio eine Veränderung markierte, die eine Rückkehr zu einem (verlorenen) Idealzustand anzeigte, wurde innovatio als eine Veränderung verstanden, die mit diesem Idealzustand bewusst brach und allein aufgrund dieser Tatsache als schlecht zu erachten war. Benoît Godin zeichnet diese negative Bedeutung von Begriff und Idee von Innovation für die Frühen Neuzeit auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern eindrucksvoll nach. Da Innovation eine Veränderung zum Schlechteren bzw. die Veränderung selbst als schlecht markierte, wurde der Begriff in aller Regel dann verwendet, wenn für den status quo optiert wurde.Godin: Innovation Contested, Kapitel 4–6. Vgl. auch für die spezifisch englische Variante dieser Diskussion Phil Withington: Society in Early Modern England. The Vernacular Origins of Some Powerful Ideas, Cambridge 2010, S. 73–101.In ihrer begriffsgeschichtlichen Studie zum Begriffsfeld »Reform« zeigt Jonna Innes für den britischen Kontext, dass sich diese Gebrauchsweisen auch im 18. und 19. Jahrhundert ungebrochen fortsetzten. Spätestens seit »Reform« als Begriff und Anliegen ab den frühen 1780er-Jahren merklich an politischer Konjunktur gewann, fungierte »Innovation« als ein Schlagwort all jener, die sich als Gegner jeglicher Reformprozesse verstanden.Joanna Innes: »Reform« in English Public Life. The Fortunes of a Word, in: Arthur Burns / Joanna Innes (Hg.): Rethinking the Age of Reform. Britain 1780–1850, Cambridge 2003, S. 71–97. Zur sich öffnenden Konnotationen des Reform-Begriffs auch in der außerenglischen Debatte siehe Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: GGb 5, S. 313–360. Vgl. zum weiteren Kontext der Reformdebatte Sebastian Meurer: The Dawning of the Age of Reform. Epistemic and Semantic Shifts in Georgian Britain, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 62–84.Denn wohingegen Reform als offener Begriff operierte, dem – je nach rhetorischer Absicht – entsprechende Konnotationen beigemischt werden konnten, besaß der Begriff der Innovation seit jeher kraftvolle negative Implikationen. Wer ihn nutzte, konnte sicher gehen, die gewünschten Abwehrreflexe zu provozieren.Derlei Dynamiken zeigen sich nicht allein mit Blick auf Verwaltungsorganisationen, sondern in besonderer Klarheit im Umfeld politischer Reformprozesse. Parlamentsdebatten der 1780er-Jahre machen beispielsweise deutlich, welch glänzende rhetorische Effekte der Begriff erzielte, wie machtlos Reformanhänger gegenüber gerade diesem Begriff waren und gegen welche impliziten und expliziten Vorbehalte sie in diesem Zusammenhang zu argumentieren hatten. Deutlich wird all dies beispielsweise in der Debatte um einen Vorschlag zur Reform parlamentarischer Repräsentation im House of Commons, den William Pitt der Jüngere 1785 – in seiner Rolle als Prime Minister – einbrachte. In seiner Eröffnungsrede antizipierte Pitt zahlreiche Vorbehalte. Im Bewusstsein, dass zahlreiche Members of Parliament gegenüber »every species of reform« feindlich gesinnt waren, versuchte Pitt die Befürchtung auszuräumen, dass die vorgeschlagene Reform weiteren Veränderungen Bahn bräche und, sobald das »daring enterprize of innovation« einmal begonnen habe, nicht mehr zu bremsen sei. Er war zudem bedacht, die vorgeschlagene Reform gerade nicht als Innovation zu markieren: »The objection to reform, under the idea of innovation, would not hold good [...], for it was not an innovation«.William Cobett (Hg.): The Parliamentary History of England from the Earliest Period to the Year 1803, Bd. XXV, London 1815, Sp. 432–434.Damit freilich hatte Pitt, wenn auch ex negativo, jenen Teufel an die Wand gemalt, der den Reformgegnern als wichtigstes Schlagwort diente. »Innovation«, so argumentierten jene, »was to be dreaded, and avoided as much ass possible in all establishments.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 455.Innovation nämlich schaffe eine Präzedenz: »If a door were once opened to innovation and experiment, there was no knowing to what extent it might be carried.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 463. Ähnlich auch die Einlassung von Lord Campbell: »The door once opened for innovation and experiment, the wisest among them could not say where it would end.« Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 470.Wie könne man, so beispielsweise Lord North in einer Einlassung gegen das Gesetz, die altehrwürdige britische Verfassung antasten, die dem britischen Volk die beste Form politischer Repräsentation an die Hand gegeben habe? »The means were provided by our ancestors, and had been sanctioned by experience, the test of truth.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 460.Derlei Argumente wurden derweil außerhalb des Parlaments zusätzlich untermauert, etwa in einer Predigt, die Reverend George Berkeley im Januar 1785 in der Kathedrale von Canterbury hielt. Er zeigte darin »the danger and the sin of making violent innovations in any form that hath been long and quietly established.« Berkeley erkannte zwar an, dass sanfte Veränderung der Modus allen Lebens und daher unvermeidbar war, »but great and violent innovations no individual is entitled to make.«George Berkeley: The Danger of Violent Innovations in the State Exemplified from the Reigns of the two first Stuarts, in a Sermon preached at the Cathedral and Metropolitical Church of Christ, Canterbury, on Monday, Jan. 31, 1785, Canterbury 1785, S. 9–10.Gegenüber solchen politischen und religiösen Verweisen auf Alter und Erfahrung als Garanten des status quo blieb den Verfechtern der Bill nichts, als den »dread of innovation« zu verurteilen, der die Debatte beherrsche, sowie die automatischen Vorbehalte zu beklagen, »which the idea of innovation raised in the minds«.Cobett, Parliamentary History, XXV, Sp. 462 und Sp. 466.Unter solchen rhetorischen Vorzeichen jedenfalls war kein Staat zu machen: Wie bereits zweimal zuvor verlor die Regierung die nachfolgende Abstimmung.Weisere Reformer zogen es darum vielfach vor, von der Verwendung des Begriffes abzusehen oder ihn immerhin in einen anderen Kontext zu setzen. Charles James Fox beispielsweise bevorzugte es, dem Kind einen anderen Namen zu geben. »The principle of innovation«, argumentierte er, »should more properly be called amendment«. An anderer Stelle gab er zudem dem Begriff »improvement« den Vorzug.Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 466.Fox war hier ganz auf der Höhe der Zeit, denn allerorten ist zeitgenössisch der Versuch zu beobachten, Innovationen und Reformprojekte in ein annehmbares rhetorisches Gewand zu hüllen. Derek Beales hat dieses semantische Feld um den Reformbegriff einmal zusammengestellt. Begriffe wie »amelioration«, »amendment«, »modification«, »correction«, »promotion«, »reformation«, »improvement«, »renovation«, »restoration«, »remedy«, »regulation«, »redress«, »reconstruction«, »repeal«, »intervention« oder »interposition« – um nur einige zu nennen – wurden allenthalben in Anschlag gebracht, um Reformprojekte argumentativ zu stützen, wobei »improvement« schnell zum verbreitetsten und verträglichsten Terminus avancierte.Derek Beales: The Idea of Reform in British Politics, 1829–1850, in: Timothy Charles Willliam Blanning/Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 159–174, hier II, S. 162–3. Siehe auch zum Begriff »improvement« Innes: »Reform« in English Public Life.Auffällig ist daneben aber auch die Präferenz für die Vorsilbe »re-«, die bei aller Veränderung immerhin die Rückkehr zu einem Vorzustand suggerierte und die durch die Verneinung irgendwelcher Neuerungen der Veränderung den Schrecken zu nehmen suchte. Das ändert nichts an der grundlegenden Einsicht, dass Reformprojekte, insofern sie Bestehendes antasteten, einen schweren Stand hatten. Die Nachwirkungen radikaler politischer Veränderungen wie der Französischen Revolution verhärteten die Fronten gegen alles Neue zusätzlich. Hatte etwa der Strafrechtsreformer Samuel Romilly im Jahr 1790 noch geglaubt, die Reformen in Frankreich könnten den britischen »horror of innovation« mildern helfen, so musste er 1808 erkennen, dass das Gegenteil der Fall war. Die Revolution habe dafür gesorgt, dass jeder Reformversuch einem »stupid dread of innovation« begegne.Samuel Romilly: Memoirs of the Life of Sir Samuel Romilly, 3 Bde., London 1840, S. 253–4.Der Autor eines Reformtraktats, publiziert 1810 in London, fand es unter diesen Umständen offensichtlich angebracht, bereits im Obertitel seiner Schrift eine Klarstellung unterzubringen: »Reform without Innovation«.Anon.: Reform without Innovation: Or, Cursory Thoughts on the Only Practicable Reform of Parliament, Consistent with the Existing Laws, and the Spirit of the Constitution, London 1810.In aller Regel waren die Debatten weniger hitzig, wenn es um administrative Reformen ging, doch auch hier lassen sich die selben rhetorischen Grundmuster und ideologischen Reflexe erkennen. Mit Blick auf die Reform der Treasury schien es etwa der Reformkommission der Public Accounts 1781 angeraten, ihre Vorschläge mit Rücksicht auf die »Wisdom of our Ancestors« und die »Experience of Ages« mit großer Vorsicht zu formulieren. Jede »Idea of Innovation«, so wussten auch diese Männer, würde zu Unruhe und Widerstand Anlass geben.The Fifth Report of the Commissioners appointed to examine, take, and state, the Public Accounts of the Kingdom, 28 November 1781, in: The Journals of the House of Commons 38 (1803), S. 572–577, hier S. 577.Ähnlich war die Diskussionslage beispielsweise mit Blick auf die Zollbehörde, zumal sie zu den ältesten Verwaltungsorganen des Königreichs gehörte. Sie war eine »great and ingenuous Fabrick [...] which has been erecting [...] by degrees almost an age«.The National Archives (Kew) [TNA], T1/123, no.4, Scottish Customs Commissioners to the Treasury, 31. 05. 1710.In den Augen vieler Zeitgenossen machte sie das nahezu unantastbar, doch konnte das selbe Argument auch für Reformversuche genutzt werden. Adam Smith, selbst für eine Zeit lang Commissioner of Customs in Schottland, war etwa der Ansicht, ihr hohes Alter habe »introduced and authorized many abuses«. Die dahinterliegende Idee war jedoch auch hier erkennbar eine Form der renovatio, also eine Rückkehr zu einer unkorrumpierten Urform, nicht etwa die Einführung von Innovationen.Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 2, Oxford 1979, p. 897.Diese sah auch Smith mit Vorbehalten, insbesondere im politischen und administrativen Bereich: Es erfordere »the highest effort of political wisdom«, um zu entscheiden, ob Reformen in Richtung einer Wiederherstellung der »authority of the old system« zu laufen hätten, oder ob es angeraten sei »to give way to the more daring, but often dangerous spirit of innovation«.Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, Cambridge 2002, S. 273.Innovation in der Frühen Neuzeit, als Begriff und als Idee, entbehrte folglich, anders als in der Moderne, jeglicher Verlockung. Das gilt nicht allein, aber grundsätzlich auch für alle administrativen Kontexte. Der praktischen Umsetzung von Reformen und Veränderungen war sie darum bestenfalls wenig förderlich und schlimmstenfalls hinderlich.Sieht man von der offenen semantischen Verhandlung von Neuerungsprozessen in frühneuzeitlichen Verwaltungsorganisationen ab, dann ergibt sich ein anderes Bild. Unterhalb der expliziten Thematisierungsschwelle fanden permanent und allenthalben zahlreiche Veränderungen kleineren und größeren Ausmaßes statt. Dies umfasste auch solche Veränderungen, die explizit Neues mit sich brachten, und gilt übrigens auch weit über den englischen Fall hinaus: Wenngleich der Begriff der Innovation im deutschsprachigen Raum eher unüblich war, ist auch hier – wie auch im französischen Fall – von einer Unterscheidung zwischen Reform als Wiederherstellung eines idealisierten Zustandes in der Vergangenheit und einer auf Veränderung und die Zukunft abzielenden Neuerung auszugehen.Besonders gut untersucht im Kontext von theologischen Diskussionen, vgl. Pohlig, Wandel. Einen britisch-deutschen Vergleich zu Reformmaßnahmen im betrachteten Zeitraum bietet Eckhart Hellmuth: Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Timothy Charles Willliam Blanning / Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 5–23; Thomas Maissen: Conclusion. Bringing a Despotic Agenda Into the Public Sphere – Concluding Remarks on Languages of Reform, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 405–424.Folglich muss zwischen der sprachlichen Konzeption von Wandel etwa in Reformdebatten und dem administrativen Alltagsgeschehen analytisch unterschieden werden. Denn Verwaltungen waren in der Praxis mitnichten so innovationsavers, wie sie sich auf der rhetorischen Ebene stilisierten. Im Folgenden soll daher ein genauerer Blick auf die Praxis und die Praktiken der Verwaltung geworfen werden, um eine weitere Perspektive auf Wandel und Neuerung in frühneuzeitlichen Verwaltungen zu gewinnen.Administrativer Wandel zwischen Innovations-Diskursen und AlltagspraxisIm britischen Kontext werden konzertierte und zentral durchgeführte Reformen für gewöhnlich in den 1780er-Jahren verortet. Erstmals wurde im politischen Diskurs der Zeit offen von der Notwendigkeit administrativer und parlamentarischer Reformen gesprochen und über ihre konkrete Gestalt gestritten. Mit der Einführung neuer administrativer Rechenschaftstechniken, der Abschaffung von Sinekuren und der schrittweisen Überholung vermeintlich vormoderner Verwaltungslogiken markieren die parlamentarisch organisierten Reformen der Exekutive in diesen Jahren in vieler Hinsicht einen deutlich sichtbaren Bruch. Erkennbar ist dies auch an der Anwendung einer neuen politischen Sprache: Erst im Umfeld der Reformen zwischen 1780 und 1785 zeigten die Mitglieder der entsprechenden Reformkommissionen ein klares Bewusstsein für ideale, durch gesteuerte Veränderung zu verwirklichende bürokratische Formen und, davon abgeleitet, eine explizite Reflexion über den Neuheitsgehalt ihrer Vorschläge.John Torrance: Social Class and Bureaucratic Innovation. The Commissioners for Examining the Public Accounts 1780–1787, in: Past and Present 78 (1978), S. 56–81; Philip Harling: The Waning of Old Corruption. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996, Kapitel 1; Innes: »Reform« in English Public Life.Bezeichnend ist dabei weiterhin, dass die oben angesprochenen Vorbehalte gegen Reformvorhaben und Innovationen aller Art stets mitgedacht wurden:We are well aware of the Difficulties that must for ever attend the introducing Novelty of Form into ancient Offices, framed by the Wisdom of our Ancestors, and established by the Experience of Ages; they are considered as incapable of Improvement; the Officers educated in, and accustomed to the Forms in Use, are insensible of their Defects, or, if they feel them, have no leisure, often no Ability, seldom any Inclination, to correct them; alarmed at the Idea of Innovation, they resist the Proposal of a Regulation, because it is a Change, though from a perplexed and intricate, to a more simple and intelligible System.The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.Auf zentraler Regierungsebene, das heißt im Parlament und den führenden Organen der Exekutive, waren trotz aller Vorbehalte die Voraussetzungen gegeben, um aus heutiger Sicht mit einiger Zuversicht von einem Moment der Innovation zu sprechen. Tatsächlich werden auf der Basis solcher Befunde in der Forschungsliteratur eine ganze Anzahl von Transformationsprozessen gewöhnlich in diesem Zeitraum verortet. Dies betrifft auch die klassische verwaltungsgeschichtliche Frage nach dem Übergang vormoderner Amtsträgerschaft zum modernen Verwaltungsbeamtentum. Für die englische Zollbehörde sind beispielsweise seit Ende des 17. Jahrhunderts hier und dort Forderungen nach Maßnahmen belegt, die als wichtige Bausteine zu einem solchen Prozess interpretiert werden können: Anstatt durch den Bezug von Gebühren sollten Zollbeamte über ein festes Gehalt entlohnt werden; das Verbot politischer Betätigung sowie der Ausübung kommunaler Ämter und privater Nebenberufe sowie weitere Maßnahmen sollten schädliche soziale Bindungen vor Ort unterbinden; eigens eingeführte Amtstagebücher sollten eine ungebrochene Rechenschaftslegung erzwingen; und eine technische Ausbildung sowie die Beförderung auf der Grundlage von Erfahrung und Können sollten der allgegenwärtigen Patronage den Nährboden entziehen. Im Effekt zielte all dies, so der Tenor der relevanten Forschungsliteratur, auf das Weber’sche Ideal eines geschulten, rechenschaftspflichtigen, unabhängigen und allein der Verwaltungslogik folgenden Amtsträgers. Die Reformen der 1780er-Jahre bilden in diesem Narrativ darum einen geeigneten Kulminationspunkt solcher Prozesse, weil die parlamentarisch eingesetzten Kommissionen zur Reform des Zolls oder der Treasury viele dieser Aspekte in ihren Empfehlungen aufgriffen. Zudem wurde das technische Stückwerk einzelner Reformmaßnahmen nun erstmals in die Form eines zielgerichteten und absichtsvollen Prozesses gegossen, der Effizienzsteigerung und moderne Verwaltungsformen explizit zum Ziel hatte.Vgl. Henry Parris: The Origins of the Permanent Civil Service, 1780–1830, in: Public Administration 46 (1968), S. 143–166; Gerald Edward Aylmer: From Office-Holding to Civil Service. The Genesis of Modern Bureaucracy, in: Transactions of the Royal Historical Society 30 (1980), S. 91–108; John Brewer: Servants of the Public – Servants of the Crown. Officialdom of Eighteenth-Century English Central Government, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Hg.): Rethinking Leviathan. The Eighteenth-Century State in Britain and Germany, Oxford 1999, S. 127–47; Hannes Ziegler: The Preventive Idea of Coastal Policing. Vigilance and Enforcement in the Eighteenth-Century British Customs, in: Storia della Storiografia 74 (2018), S. 75–98.Nicht von ungefähr wurde all dies, ganz emphatisch, verstanden als eine Veränderung von einem »perplexed and intricate, to a more simple and intelligible System«.The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.Der unmittelbare Eindruck wirklicher, zielgerichteter Veränderung hin auf ein bestimmtes Ideal verschwindet schnell beim näheren Blick auf einzelne, unterhalb dieses Meta-Diskurses stattfindende Diskursfelder und zerfällt in die modern wie vormodern vertrauten Interessensfelder, in denen die betreffenden Akteursgruppen qua Amt, politischer Affiliation und sozialem Status agierten. So waren sich die Mitglieder der Zollkommission und der Treasury – Akteure also, die in der Regel nicht selbst an der Formulierung von Reformideen beteiligt waren oder dies jedenfalls nicht als kohärente soziale Gruppe taten – jederzeit bewusst, dass die Einführung einer bestimmten Norm keineswegs gleichbedeutend mit ihrer Umsetzung war. In einer kritischen Auseinandersetzung mit jahrzehntelanger Verwaltungspraxis im Bereich des Zolls stellte beispielsweise Sir William Musgrave, langjähriger Commissioner der Zollbehörde, Anfang der 1780er-Jahre fest, dass wichtige Maximen von den lokalen Amtsträgern, ihren unmittelbaren Vorgesetzten vor Ort und selbst der Zentralbehörde beständig ignoriert worden waren, obwohl sie bereits nahezu 100 Jahre formal Geltung hatten. So wurde die im Hinblick auf Korruptionsbekämpfung wichtige Regel, wonach Amtsträger des Zolls nicht in ihren Heimatgemeinden eingesetzt werden sollten, von der Zentrale zwar immer wieder und bei jeder passenden Gelegenheit wiederholt, in der Praxis aber meist ignoriert.Ähnliches galt für den Grundsatz, wonach Amtsträger halbjährlich auf einen neuen Posten versetzt werden sollten. Auch die Maßgabe, dass Amtsträger nur ein einziges Zollamt ausüben sollten, um Ämterhäufungen und Absentismus zu vermeiden, wurde in vielen Fällen unterlaufen und ignoriert.Arthur L. Cross (Hg.): Eighteenth Century Documents relating to the Royal Forests, the Sheriffs and Smuggling, London 1928, S. 248–288.Von den allenthalben als notwendig erachteten administrativen Regeln war die bürokratische Praxis also weit entfernt. Die politischen und sozialen Fliehkräfte waren für derlei Regeln auf allen Ebenen zu stark, und dies nicht etwa allein deshalb, weil – wie man aus moderner Sicht vermuten könnte – die Verlockung von Korruption und Patronage zu groß war. Selbstverständlich achtete jeder Akteur und jede Akteursgruppe auf den eigenen Vorteil, und die Besetzung niederer Amtsposten mit politisch opportunen Kandidaten schlug im Ernstfall jede abstrakte Regel. Mit gleichem Recht konnte jedoch beispielsweise behauptet werden, dass die Einsetzung Ortsfremder der erfolgreichen Zollverwaltung nur schaden könne, da ihnen die nötigen lokalen Kenntnisse fehlten. Mithin kennzeichnet die Umsetzung derlei administrativer Innovationen im konkreten Verwaltungsalltag, dass sie beständig wiederholt und ›neu‹ eingeführt werden mussten, um allenfalls minimale Beachtung zu finden. Entsprechend ist es zwar möglich, das Auftreten einer bestimmten Reformidee auf zentraler Regierungsebene auszumachen und zu datieren, doch bleibt es zugleich fraglich, in welchem Maße derlei Ideen jemals praktische Gestalt annahmen. Auf lokaler Ebene, auf den unteren Verwaltungsebenen und selbst unter Gesichtspunkten von in der Zentrale vertretenen Interessen wurden andere Verhaltensangebote häufig für genauso legitim erachtet wie derlei Reformbestimmungen. Gerade unter den Bedingungen einer vormodernen und verhältnismäßig wenig formalisierten Bürokratie waren solche Reformmaßnahmen folglich nicht mehr als ein Angebot, von dem situativ Gebrauch gemacht werden konnte, das in der Praxis jedoch unter einer Vielzahl älterer, dem Herkommen, der Gewohnheit oder Partikularinteressen geschuldeten Praktiken zu verschwinden drohte.Derlei Gewohnheitspraktiken orientierten sich dabei in aller Regel an einem routinehaften Gebrauch bestimmter Verwaltungsinstrumente, die eher traditionellen Zwecken der jeweiligen Entscheidungsträger folgten. Mochten administrative Reformregularien auf abstrakter Ebene auch einleuchten, so standen ihnen oft genug legitime soziale Interessen der beteiligten Akteure entgegen. Im Zweifel zogen es beispielsweise zentrale Behördenvertreter häufig genug vor, die Vergabe von Ämtern in einer der Patronagelogik gehorchenden Weise zu vollziehen. Derlei vermeintliche ›Rückfälle‹ in traditionale Verwaltungsmechanismen – etwa unter der Regierung Walpole – waren ebenso häufig wie tiefgreifend.Harling: Waning of Old Corruption; Patrick Walsh: The Making of the Irish Protestant Ascendancy. The Life of William Conolly, 1662–1729, Woodbridge 2010, S. 125–152; David A. Fleming: Politics and provincial people. Sligo and Limerick, 1691–1761, Manchester 2010, S. 163–191.Mithin sind sie bestimmten politischen Konstellationen geschuldet, die jeder teleologischen Interpretation einer langsamen, aber unaufhaltsamen Durchsetzung ›moderner‹ Verwaltungslogiken widersprechen. Ungeachtet der praktischen Konsequenzen eines Festhaltens an überkommenen Verwaltungsmechanismen befanden sich die jeweiligen Entscheidungsträger unter den Vorzeichen des zeitgenössischen Zeit- und Innovationsverständnisses außerdem insofern im Recht, als sie einer hergebrachten Praxis folgten und gefährlicher Neuerung damit eine Absage erteilten.Nicht vergessen werden sollte dabei zudem, dass auch die Einführung neuer und scheinbar moderner Formen und Regularien keineswegs allein oder vordringlich dem Diktat administrativer Effizienz folgen musste. Die Abschaffung von Zollgebühren zugunsten von Gehältern, die Beseitigung einer Anzahl von Sinekuren auf Lebenszeit und die damit verbundene Begrenzung des Dienstalters für Zollangestellte im Hafen von London – alles Maßnahmen eingeführt im Zuge der Zollreformen in den 1780er-Jahren – können zwar auf den ersten Blick als innovative Reformen zur administrativen Effizienzsteigerung verstanden werden. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass – wie Spike Sweeting gezeigt hat – derlei Maßnahmen auch darauf zielten, die Zollbehörde von alternden Sinekuristen zu befreien und als erneuertes Reservoir für Patronageakte für die Lords der Treasury zu erschließen.Spike Sweeting: Capitalism, the State and Things. The Port of London, circa 1730–1800, unpublizierte Dissertation, University of Warwick 2014, S. 108–158.Insofern diese Maßnahmen also Neuland betraten, mag die Rede von Innovation gerechtfertigt sein. Jede Anmutung von Effizienzsteigerung und Professionalisierung, die dem modernen, normativen Innovationsbegriff auch innewohnt, wird jedoch durch die bürokratiefremden Zwecke solcher Maßnahmen grundsätzlich infrage gestellt, ganz zu schweigen von der impliziten Annahme eines zielgerichteten Prozesses von Modernisierung, der in solchen Momenten bestenfalls rückläufig erscheint. So betrachtet wird vielmehr eindrucksvoll deutlich, in welchem Maße eine solche Perspektive Gefahr läuft, der Gestalt und Richtung zeitgenössischen bürokratischen Wandels Gewalt anzutun. Im Sinne des Interessensfeldes »Patronage«, das auf allen Ebenen der Exekutive wie auch insbesondere in lokalen Kontexten von systemerhaltender und struktureller Bedeutung war, waren solche Absichten und die damit verbundene Aneignung von Verwaltungsressourcen keineswegs dysfunktional: Der Reformprozess erfüllte in den Augen seiner Protagonisten seinen Zweck.All dies verdeutlicht, dass der eingangs dieses Abschnitts betrachtete Reformdiskurs der 1780er-Jahre, der auf zentraler Regierungsebene stattfand, in einem deutlichen Kontrast nicht nur zum Verwaltungsalltag, sondern auch zu den politischen und ökonomischen Absichten bestimmter Interessensgruppen in der Zentrale stand. Gerade darum erscheint es uns wichtig, prominente Reformdiskurse mit Vorsicht zu betrachten und vorschnelle Rückschlüsse auf zeitgenössisch stattfindende Innovationsprozesse zu vermeiden. Wandel und Veränderung in administrativen Kontexten folgte zeitgenössischen Spielregeln, die sich modernen Begrifflichkeiten vor allem dann widersetzen, wenn diesen eine normative Aufladung innewohnt, die sich nicht mit dem zeitgenössischen (Zeit-)Verständnis deckt; es gilt daher umso mehr, diese in ihren historischen Kontexten zu untersuchen. Die normative Diskursebene ist hiervon ein wichtiger Teil. Doch ist sie – in der Vormodere ebenso wie unter modernen Bedingungen – häufig nur Produkt, Spielball und rhetorisches Aushängeschild anderswirkender Kräfte und darum für sich betrachtet irreführend.Ein weiterer Aspekt der Problematisierung des analytisch mitunter schwierigen Verhältnisses von Reformrhetoriken und administrativer Praxis im historischen Kontext ist die Erkenntnis, dass Wandel, Veränderungen und bürokratische Neuerungen in vormodernen administrativen Kontexten vielfach – und angesichts der politischen und gesellschaftlichen Belastung der Innovationssemantik vielleicht sogar in der Mehrheit der Fälle – in aller Regel nicht als Neuerungen oder Innovationen markiert wurden. Selbst im Binnendiskurs einzelner Verwaltungsorgane charakterisiert die Einführung von Neuerungen stattdessen häufig eine bemerkenswerte Beiläufigkeit. Mindestens vor Anbruch jener vielzitierten »Ära der Reformen« seit den frühen 1780er-Jahren verblieb die Einführung selbst tiefgreifender administrativer Maximen im Modus des Technischen. Die zitierte Bestimmung innerhalb des englischen Zolls etwa, dass Amtsträger niemals dort eingesetzt werden sollen, wo sie »related or habituated« waren – eine Bestimmung, die nicht allein von der Zollbehörde, sondern auch von der Treasury und bis hinein ins Privy Council diskutiert wurde – blieb auf allen Ebenen eine nüchterne technische Anweisung, obwohl sie in ihren praktischen Konsequenzen kaum radikaler sein konnte und dezidiert mit bisherigem Gebrauch brach.Ziegler: Preventive Idea, S. 94. Zur Zollbehörde und bürokratischer Professionalisierung vgl. William B. Stephens: The Seventeenth-Century Customs Service Surveyed. William Culliford’s Investigation of the Western Ports, 1682–84, Farnham 2012; William J. Ashworth: Customs and Excise. Trade, Production, and Consumption in England 1640–1845, Oxford 2003; John Brewer: The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688–1783, London 1989.Der Grund dafür ist schlicht darin zu suchen, dass solchen Reformvorhaben in aller Regel die zukunftsgerichtete Vision fehlte, die einer emphatischen Aufladung solcher Maßnahmen den Nährboden geboten hätte. Nirgends findet sich im Umfeld der Einführung dieser Regel die für ein Reformvorhaben typische Kontrastierung eines schlechten Ist-Zustandes mit einem zu erreichenden Ideal. Denn verhandelt wurde in den Augen der Beteiligten hier in aller Regel die Behebung eines konkreten Missstandes, nicht aber die Bewegung hin auf ein explizit formuliertes oder implizit mitgedachtes Idealziel. Es fehlte, mit anderen Worten, in der Regel die Zukunft als Abstraktum und damit die Markierung der Gegenwart als Bruch mit der Vergangenheit. Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass keinerlei Veränderung stattfand. War die Umsetzung, insbesondere in der Zollbehörde, auch bisweilen sporadisch und lückenhaft, so führte sie doch zu einer merklichen Veränderung administrativer Praxis auf Grundlage einer Regelung, die sich ohne Weiteres als Neuerung verstehen lässt – und die doch semantisch an keiner Stelle so verhandelt wurde.Schließlich ist jenseits der expliziten sprachlichen Verhandlung von Reformen und der mehr oder minder beiläufigen Einführung von administrativen Neuerungen auch erkennbar, dass die Einführung bestimmter Verwaltungstechniken auf lokaler Ebene dem beständigen Spiel lokaler Aneignung ausgesetzt war. Aufgrund des geringen Grades bürokratischer Formalisierung insbesondere auf den unteren und dezentralen Ebenen der Zollverwaltung in den Außenhäfen Großbritanniens war beispielsweise der konkrete Umgang mit bestimmten Neuerungen ein durchaus kreativer Prozess. So führte die zitierte Maßgabe einer regelmäßigen Versetzung einzelner Amtsträger auf lokaler Ebene zu der Gewohnheit und dem Anspruch, einzelne Posten nach Belieben – und häufig gegen Geldzahlung – zu tauschen.Vgl. beispielsweise TNA, CUST59/10, 24. 05. 1762, 2. 8. 1762; CUST59/76, 27. 7. 1762; CUST62/59, 28. 4. 1718.Die bereits seit den 1690er-Jahren bestehende Pflicht für die Amtsleute der Küstenwache, über ihr Verhalten genaues Tagebuch zu führen, trieb im Laufe der Jahrzehnte wiederum ganz eigene Blüten. Neben der durchaus findigen Praxis, Tagebucheinträge entweder gleich zu fälschen oder voneinander abzuschreiben (oder dies von einem Schreiber gegen kleinen Lohn tun zu lassen), zeigt die lokale Praxis auch die Gewohnheit, Tagebücher nach völlig eigenem Gutdünken zu führen und die zentral formulierten Anforderungen an diese Form der Rechenschaftsablage zu unterlaufen. Dies reicht bis zur Möglichkeit, vorgedruckte und folglich standardisierte Formulartagebücher für den eigenen Gebrauch umzufunktionieren.TNA, CUST59/71, 10. 6. 1735; TNA CUST97/2, 20. 10. 1708; CUST97/3, 13. 10. 1718, 23. 11. 1719; CUST97/4, 22. 2. 1720; CUST97/75, 22. 8. 1747.Jenseits der Frage, ob und inwieweit zentral formulierte Anliegen überhaupt im Alltagsgeschäft in Anwendung kamen, ist daher auch jederzeit davon auszugehen, dass die Anwendung neuer bürokratischer Techniken und Routinen umgehend zu neuen Spielräumen und Umgangsformen auf lokaler Ebene führte, die in ihrer Art ebenfalls neu waren, den Intentionen der Zentrale aber allenfalls entfernt ähnelten.Betrachtet man dementsprechend den hier auf mehreren Ebenen skizzierten Kontrast zwischen normativ verordneten administrativen Neuerungen mit dem alltäglichen Verwaltungshandeln, dann wird deutlich, dass der Sinn, der Verlauf und die Richtung solcher Prozesse kaum je mit jener teleologischen Eindeutigkeit und jener emphatischen Effizienzsteigerung in eins fallen, die uns ein modernes Verständnis von Innovation suggeriert. Veränderungsprozesse in vormodernen Bürokratien verliefen nicht geradlinig, sie verliefen nicht widerstandsfrei und sie nahmen nicht notwendigerweise die Richtung hin auf eine die Verwaltungseinheit verbessernde Gestalt. Mithin kennzeichnet sie gerade, dass diese Prozesse mit Blick auf die resultierende Form ergebnisoffen verlaufen und für allerlei Störungen anfällig sind, die außerhalb der Verwaltungseinheit selbst liegen. In funktional nicht voll ausdifferenzierten Gesellschaften ist die Beimengung fremder Handlungslogiken immer eine reale Möglichkeit. Die Heranziehung genuiner Verwaltungsressourcen zu Patronagezwecken ist hier sicherlich nur das offensichtlichste Beispiel. Selbst im lokalen und Mikro-Bereich ist immer damit zu rechnen, dass Erfordernisse des Verwaltungsapparates, die vorgeblich auf seine Effizienz zielen – Tagebücher, Postentausch, Gehälter – mit sozialen Zwecken der Akteure vermengt werden und in ihnen vollends aufgehen. Die Einführung einer der Innovation verdächtigen Technik – sei es eine Schreibtechnik oder eine Form der Professionalisierung von Amtsträgerschaft – ist darum keineswegs gleichbedeutend mit einem Innovationsprozess.Zudem stellt sich die Frage nach der Skalierung von Innovation oder anders formuliert: Ist jede Neuerung, jede Veränderung auch eine Innovation? Um dieses Problem noch deutlicher zu fassen, soll ein letztes Mal die Perspektive gewechselt werden. Statt nach großen Reformen sollen nun kleine Variationen und Veränderung im Bereich administrativer Routinen in der städtischen Verwaltung Londons im 17. und 18. Jahrhundert untersucht werden, um gewissermaßen ex negativo noch einmal das Potenzial, aber auch die methodischen Schwierigkeiten im Umgang mit Innovationen auszuloten.Wandel im Kleinen: von der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit der RoutineAls Beispiel dient ein kleines und auf den ersten Blick eher unwahrscheinliches Phänomen: die sogenannten Wardmote Presentments. Die Wardmote Presentments entstanden im Rahmen der jährlichen Versammlung eines Londoner Stadtviertels (Wards), dem sogenannten Wardmote, auf dem die Repräsentanten und lokalen Ämter eines Wards für das kommende Jahr gewählt wurden und über verschiedene lokale Belange beraten und entschieden wurde.Zu den Wardmotes siehe Charlotte Berry: ›To avoide all envye, malys, grudge and displeasure‹: sociability and social networking at the London wardmote inquest, c. 1470–1540, in: The London Journal 42/3 (2017), S. 201–217.Auf den Wardmotes wurden die im Jahr angefallenen Beschwerden eines Wards (herumliegender Abfall, unordentliche Häuser, Alkoholausschank ohne Lizenz) verlesen. Zusammen mit den neu gewählten Amtsinhabern wurden diese Beschwerden schriftlich dokumentiert. Der Ablauf des Wardmotes war in seinen Grundzügen formal geregelt, wobei vor allem auf den Ablauf der jährlichen Wahl der Amtsträger und der vierjährigen Wahl der Aldermen und Common Council Men sowie auf den Wortlaut der Amtseide ein besonderer Fokus gelegt wurde.Eine detaillierte Anweisung, wie das Wardmote abzuhalten sei, findet sich hier: London Metropolitan Archive (London) [LMA], COL/WD/02/011.Wenig Aufmerksamkeit wurde hingegen der Frage geschenkt, wie die beratenen Informationen und auf die dem Wardmote vollzogene Wahl als Rechtsakt dokumentiert werden sollte. Alle Presentments enthalten ein mehr oder minder festes Set an Informationen: das Datum, die über das Jahr gesammelten Beschwerden, eine Liste lokaler Lizenzhalter und vor allem die Auflistung der gewählten Amtsträger. Zugleich zeigt sich auf der Ebene der schriftlichen Dokumentation eine große Flexibilität und Vielfalt in der Ausgestaltung.Die schriftliche Fixierung der Wardmotes geschah in zweifacher Weise: einerseits in Form von großformatigen einzelnen Bögen, den Wardmote Presentments, die zusammen mit den Presentments der anderen Wards an die Corporation of London gegeben wurden, und andererseits in Minute Books, die im Ward selbst verblieben und über mehrere Jahrzehnte die Ergebnisse des Wardmotes dokumentierten. Die Wardmote Presentments sind über einen langen Zeitraum seriell überliefert und ermöglichen einen einzigartigen Einblick in die Veränderung, Variation und Neuerung von schrift- und dingbezogenen Verwaltungspraktiken.Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Art administrativer Schriftlichkeit unterschiedliche Funktionen besaß. Auf der einen Seite ging es um die Dokumentation und Speicherung von Informationen.Diese Art von Schriftlichkeit wird üblicherweise unter der breiten Kategorie ›pragmatische‹ Schriftlichkeit verhandelt. Der Begriff pragmatische Schriftlichkeit geht auf den Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 (Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter) zurück. Darunter werden jene Bereiche der Schriftlichkeit verstanden, die unmittelbar »zweckhaftem Handeln dienen oder menschliches Tun und Verhalten durch die Bereitstellung von Wissen anleiten wollen«, vgl. hierzu Hagen Keller: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Einführung zum Kolloquium in Münster, 17.–19. Mai 1989, in: Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992, S. 1–7, hier S. 1. Ulla Kypta bemerkt, dass Studien zur pragmatischen Schriftlichkeit zwar die »performative Kraft« von Verschriftlichung konstatieren, dennoch häufig eine Differenz zwischen dem Objekt der Schriftlichkeit und dem Prozess des Verschriftlichens aufmachen. Vgl. Ulla Kypta: Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand, Göttingen 2014, S. 23.Auf der anderen Seite zielte das administrative Schrifttum auf die symbolische Herund Darstellung der im Kern korporativen Verfassung von London, und eng damit verbunden ging es um die schriftliche Dokumentation der Wahlergebnisse, die ihrerseits rechtsbindenden Charakter besaßen.Zur symbolischen Funktion von Verwaltungsschriftgut siehe auch Paul Griffiths: Secrecy and Authority in Late Sixteenth- and Seventeenth-Century London, in: The Historical Journal 40/4 (1997), S. 925–951, bes. S. 933.Wenngleich im Laufe des 18. Jahrhunderts lokale Aufgaben zunehmend durch überlokale städtische Institutionen, wie etwa die Commissioners of Sewers, übernommen wurden, blieb das Selbstverständnis der Stadt im Kern ein dezentrales und korporatives. Die schriftliche Dokumentation der Wardmotes ist somit zugleich auch die permanente symbolische Dokumentation und der schriftliche Vollzug des korporativen Grundcharakters der City of London. Diese Perspektive deckt sich mit jüngeren Ansätzen der Verwaltungsgeschichte, die sich vermehrt für die Funktion von Schreibpraktiken und Formen der Informations- und Wissensspeicherung interessiert.Vgl. Markus Friedrich: Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773, Frankfurt am Main 2011, S. 18, Anm. 21 mit weiterführender Literatur. Einschlägig etwa Gerd Spittler: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 574–604. Vgl. zudem Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009; Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008; Matthias Pohlig: Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg, Köln 2016; Megan Williams: »Zu Notdurfft der Schreiberey.« Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei, in: Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015, S. 355–373.; Megan Williams: Unfolding Diplomatic Paper and Paper Practices in Early Modern Chancellery Archives, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 496–508. Neben der klassischen Verwaltungsgeschichte steht in jüngerer Zeit das Archiv aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive im Fokus. Aus der Fülle an Literatur siehe etwa die umfangreiche Diskussion zum Verhältnis von Archiven, Schrift und Textproduktion in Alexandra Walsham: The Social History of the Archive. Record-Keeping in Early Modern Europe, in: Past & Present 230 (2016), S. 9–48; Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013; Griffiths: Secrecy and Authority.Die Erhebung und Evaluation von Information wird dabei nicht so sehr funktionalistisch als Mittel zur Effizienzsteigerung von Verwaltung begriffen, sondern eben auch als kommunikativer und symbolischer Prozess.Unter Information kann dasjenige verstanden werden, »was an Repräsentationen der Welt in Hinsicht auf eine Aufgabe verfügbar ist.« Diese Definition orientiert sich an der durch Peter Burke eingeführten Unterscheidung zwischen Wissen und Informationen, wonach Informationen »roh, spezifisch, praktisch« sind, während Wissen das »gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte« oder auch »das Gekochte« ist. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 32014, S. 18. Siehe hierzu auch Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich: Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung zum Wissensbegriff, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 11–44, S. 16. Kritisch in Bezug auf eine künstliche Unterscheidung zwischen Information als Substrat und Wissen als »Produkt systematischer Wirklichkeitsaneignung« ist Lars Behrisch: Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 455–474, S. 456.Die zweifache Bestimmung der Wardmote Presentments als Speichermedium und Repräsentationsmedium manifestiert sich an ihrer zumeist aufwendigen Gestaltung. Beim Blick auf die lokalen Minute Books zeigt sich die Herausforderung für den Schreiber, unterschiedliche Informationen auf dem begrenzten Raum der Minute Books einerseits zu dokumentieren und anderseits eine Binnenstruktur und Hierarchie der Seiten zu entwickeln, die die Auffindbarkeit erleichtert und dem repräsentativen Charakter der Wardmote Presentments gerecht wurde. Diese Aufgabe konnte auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert werden. Alle Wards experimentierten über das gesamte 17. und 18. Jahrhundert mit verschiedenen Layouts und grafischen Elementen. So wurde in Farringdon Without, St. Dunstan West 1623 die Seite durch vertikale Trennlinien mit fett geschriebenen Überschriften strukturiert und durch ein eingeklebtes Bild des namensgebenden Patrons St. Dunstan repräsentativ ausgestaltet.1643 wurde auf die Abbildung von St. Dunstan verzichtet, und die vertikalen Trennlinien wurden durch horizontale Linien ergänzt, wodurch sich eine tabellarische Grundstruktur der Seite ergab. Diese tabellarische Struktur wurde in der Folge beibehalten, wobei die Informationen im 18. Jahrhundert zunehmend auf einer Seite gebündelt wurden und nur sparsam mit Verzierungen gearbeitet wurde.LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001, Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct, 1558–1823.Diese Fokussierung auf eine tabellarische Seitenorganisation wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch deutlicher herausgearbeitet, indem die Spalten und Zeilen nun zusätzlich mit roter Tinte unterstrichen wurden. Dieses um 1700 entwickelte Layout wurde mit kleineren Variationen über das gesamte 18. Jahrhundert beibehalten.Völlig anders sah hingegen das Minute Book im Queen Hith Ward aus.LMA, CLC/W/MA/002/MS04829, Queen Hith Ward Wardmote Minute Book, 1667–1746.Im Vergleich zu St. Dunstan West war das Seitenlayout hier schnörkellos auf die Dokumentation von Informationen ausgerichtet, die durch einfache Spiegelstriche voneinander getrennt wurden. Variationen finden sich hier im Bereich der Überschriften, die etwas größer geschrieben wurden, um eine einfache Hierarchisierung und Binnenstruktur der Informationen auf einer Seite zu ermöglichen. Doch ansonsten sind die Minutes sehr schlicht gehalten und weisen keine elaborierten Schmuckelemente auf.Ein drittes Beispiel hingegen verweist auf das kreative Potenzial, das Verwaltungsschriftgut entfalten konnte. Das Portsoken Wardmote Inquest Minute Book ist bevölkert von fantastischen Fabelwesen, kuriosen Gesichtern und kunstfertigen Arabesken.LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, Portsoken Wardmote Inquest Minute Book, 1648–1798.Die räumliche Organisation der Seite zeigt eine klare Schwerpunktsetzung auf der ästhetisch-repräsentativen Funktion der Presentments. Fische, Vögel und Fabelwesen konnten durchaus ein Drittel der Seite einnehmen, während umfangreiche Arabesken hingegen Schrift und Layout zu einer Einheit verbanden. Zudem zeichnet sich das Minute Book durch ein elaboriertes Spiel mit Farbe aus. Einzelne Wörter wurden durch die alternierende Verwendung von blauer, roter und schwarzer Tinte grafisch hervorgehoben; durch die zusätzliche Verwendung von Arabesken wurde das Presentment zu einem ästhetischen Gesamtkunstwerk. Inspirationen für diese kalligrafische Ausgestaltung administrativen Schriftguts konnte der Schreiber aus einem der zahlreichen Schreiblehrbücher des 17. Jahrhundert gewinnen.Etwa Edward Cocker: The Pen’s Triumph: Being a Copy-Cook, London 1659.Hier ging es nicht, oder nicht nur, um die schlichte Speicherung von Information, sondern auch um die Repräsentation von Kunstfertigkeit und um die Betonung der herausgehobenen Stellung der Wardmote Presentments für das Selbstverständnis des Wards.Figure 1Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1623 (Source: Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1558–1823, LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001. Photograph by Franziska Neumann)].Figure 2Portsoken Wardmote Inquest Book 1666 (Source: Portsoken Wardmote Inquest Minute Book 1648–1798, LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, ohne Paginierung. Photograph by Franziska Neumann)]Diese kreative Ausgestaltung von Verwaltungsschriftgut zeigt sich auch auf der Ebene der großformatigen Presentments, die von den Wards an die Stadt gingen. Auch hier zeigt sich über das ganze 17. und 18. Jahrhundert eine große Flexibilität und Kreativität sowohl in Bezug auf das Layout als auch in Bezug auf die repräsentative Ausgestaltung. Von schlicht gestalteten Rubriken, die durch vertikale Linien und ein Item strukturiert wurdenLMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Aldgate, 1669.über einfache unverzierte tabellarische StrukturenLMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Bishopsgate, 1670.bis hin zu ausgreifenden Arabesken und gemalten WappenEtwa LMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Dowgate, 1669, 1671, 1672; Aldergate, 1668, Cripplegate, 1670.findet sich ebenso wie auf der Ebene der Minute Books ein breites Spektrum von Design und Layout. Hinzu kamen unterschiedliche Varianten, mit der Begrenztheit des aus einem großen Bogen bestehenden Presentments umzugehen: Zum Teil wurden hierfür überaus elaborierte Falttechniken genutzt, etwa indem durch das Falten des Bogens kleinere Taschen gebildet wurden, in die zusätzliche Schriftstücke eingefügt wurden und der begrenzte Raum der Presentments dadurch erweitert wurde.Etwa LMA, COL/AD/04/031, Ward Presentments Portsoken, 1735.Bei der vergleichenden Betrachtung der Wardmote Presentments zeigt sich, dass eine große Flexibilität in der Ausgestaltung formalen Verwaltungsschriftgut möglich war und durchaus die Möglichkeit zur kreativen Aneignung und Auslegung bestand. Letztlich blieb es dem einzelnen Schreiber überlassen, ob der Schwerpunkt eher auf die funktionale Ausgestaltung oder die repräsentativ-symbolischen Dimension der Presentments gelegt wurde und wie das Problem der Organisation von Information auf räumlich begrenzten Papiermedien gelöst wurde.Was sagt uns nun dieser kleine Exkurs zu Schreibpraktiken und Dingen über Innovationen im Verwaltungskontext? So faszinierend die Vielgestaltigkeit der Wardmote Presentments auch ist, so würde man diese vermutlich weder im modernen Verständnis zwingend als Innovation bezeichnen noch scheint es sich um das zu handeln, worauf die frühneuzeitliche (negative) Innovationsrhetorik im Kern abzielt. Vielmehr handelt es sich um kleinste Variationen, Veränderungen und Neuerungen, die sich in der Ausgestaltung der Wardmote Presentment Minute Books über einen langen Zeitraum abzeichnen. Und genau in dieser sehr kleinen Skalierung von Neuerung zeigt sich ihr analytisches Potenzial: gerade, weil es sich nicht um bahnbrechende, aus dem Nichts heraus entstehende Neuerungen, die Verwaltung grundlegend veränderten, handelt, sondern um inkrementellen Wandel von Routinen, die Raum und Möglichkeit für kreative Veränderung, Wandel und Innovationen lassen.In diese Richtung zielen die Befunde der Arbeit von Birgit Näther am Beispiel der bayerischen Visitationsverfahren zwischen 1574 und 1774. Dabei geht sie von einem dialogischen Verhältnis zwischen Norm und Routinepraxis aus. Mittelbehörden hätten über Jahre hinweg die Routinen den praktischen Erfordernissen angepasst und en passant neue Verfahrensziele etabliert, was sich in einer veränderten administrativen Schriftlichkeit niedergeschlagen habe. Die Mittelbehörden agierten dabei nach einer Art ›Baukastensystem‹, das bereits etablierte Verfahrenselemente aufgriff und situativ gemäß den sich verändernden Verfahrenszielen weiterentwickelte. Routinen sind also nicht nur in der Lage, Praktiken zu stabilisieren, sondern besitzen auch Veränderungspotenzial. Statt also normative Regel und Routinepraxis gegeneinander auszuspielen, ist vielmehr von einem dialogischen Verhältnis auszugehen. Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen. Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht, in: Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 121–135, bes. S. 97.Es ist bekannt, dass vormoderne Verwaltung in der Praxis in hohem Maße auf Routinen basierten, die flexibel sich verändernden Anforderungen und Rahmenbedingungen angepasst werden konnten. Routinen sind mit Ulla Kypta »selbststrukturierte und strukturierende Prozesse«, die hauptsächlich auf dem »impliziten Wissen der Akteure beruhen und wiederholt werden, ohne darüber zu reflektieren«.Kypta: Autonomie der Routine, S. 12.Administrative Praktiken als Routinen werden daher im Anschluss an die jüngeren Arbeiten zur Praxeologie hier nicht als einmalige Handlung, sondern als ein »typisiertes, routinisiertes und sozial ›verstehbares‹ Bündel von Aktivitäten« verstanden, wozu sowohl körperliches als auch sprachliches Handeln (Doings und Sayings) und auch der Umgang und der Einbezug von Objekten zählt.Theodore Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002, S. 70–73; Marian Füssel: Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 21–33. bes. S. 26. Wichtige Impulse für die Praxeologie kommen von Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301. Einen Einstieg in die Vielfalt praxeologischer Ansätze und ihren Nutzen für die Geschichtswissenschaft liefert Arndt Brendecke: Von Postulaten zu Praktiken. Eine Einführung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 13–20, bes. S. 15; Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015; Lucas Haasis/Constantin Rieske (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015.Es geht bei der Untersuchung von Routinen also nicht um das einzigartige und einmalige Handeln (und auch nicht um die mentalen Intentionen, die ihm anscheinend zugrunde liegen), sondern um Routinen, die auf implizitem und geteiltem Wissen basieren und sich in einem Ensemble aus Körpern und Dingen abspielen.Routinen haben einige grundlegende Implikationen. Auf der einen Seite schaffen sie ein Mindestmaß an Stabilität. Die Clerks der Wards müssen nicht jedes Mal von vorne überlegen, wie sie Informationen in den Minute Books dokumentieren oder welche Art von Büchern auf welche Weise zu führen ist. In ihrer Regelhaftigkeit und Gleichförmigkeit machen Routinen – ebenso wie formale Regeln – gewisse Handlungen wahrscheinlicher als andere und stabilisieren somit Erwartungshaltungen.Vgl. Niklas Luhmann: Lob der Routine, in: Ernst Lukas / Veronika Tacke: Niklas Luhmann: Schriften zur Organisation 1. Die Wirklichkeit der Organisation, Wiesbaden 2018, S. 293–332, wenngleich Luhmann hier vor allem gegen moderne Managementkonzepte argumentiert, die in Routinen eher ein Übel, denn einen funktionalen Bestandteil von Organisationen sehen.Während Formalisierung üblicherweise den Fokus auf das »Explizitmachen sozialer Regeln« legt, die zu einer Stabilisierung von Erwartungshaltungen führt, ist im Falle von Routinen gerade das implizite Wissen entscheidend. Eine Routine allein macht noch keine Formalstruktur, aber auch sie begünstigt Standardisierung und die Ausbildung stabiler Verhaltenserwartungen. Insofern sind Routinen üblicherweise ein möglicher Ausgangspunkt für weiter Formalisierungsschritte – ohne dass diese Entwicklung zwingend wäre.Zugleich sind Routinen, so die zweite Überlegung, dynamisch an sich verändernde Umweltbedingungen anpassbar – gerade weil sie nicht schriftlich fixiert worden sind. Die grundsätzliche Flexibilität in Bezug auf Layout und Design sowie die Kreativität, die einzelne Clerks in der Ausgestaltung der Presentments an den Tag legten, verdeutlichen, dass vormoderne Verwaltungen gerade auf Grund ihrer geringen Formalisierung in der Praxis ein größeres Maß an Potenzial für Veränderung, Wandel und auch Neuerung zuließen, als dies in modernen, formalisierten Verwaltungen der Fall ist.Damit erlauben es die Wardmote Minutes, eine andere Perspektive auf Innovationen in vormodernen Verwaltungen einzunehmen. Statt anachronistisch ex post gewisse Neuerungen in Verwaltungen als Innovation zu bezeichnen, also von konkreten Gegenständen oder Phänomenen auszugehen, rücken institutionelle Rahmungen in den Fokus, die Veränderung und Neuerung überhaupt erst ermöglichen. Im Falle der vormodernen Verwaltung ergibt sich gerade im Vergleich zu modernen formalen Organisationen der paradoxe Befund, dass vormoderne Verwaltungen auf diskursiver Ebene zwar ausgesprochen innovationsfeindlich waren, aber in der administrativen Praxis eine weitaus größere Flexibilität zur Ausgestaltung von Routinen zuließen, als dies in modernen Verwaltungen der Fall ist. Organisationssoziologisch betrachtet sind moderne Verwaltungen ein eher innovationsaverses Umfeld: Einfache Tätigkeitsprofile, sichere Entscheidungsprogramme, definierte Verfahren, mechanische Merkmale von Organisationsstrukturen, hohe Standardisierung, kurz also die Merkmale formaler Organisationen, bringen, so Jerald Hage, »wenig Neues unter der organisatorischen Sonne« hervor.Hage: Innovation von Organisationen, S. 81.Formale Organisationen zielen auf Standardisierung, Stabilisierung und Planungssicherheit ab, und schaffen damit nicht gerade optimale Rahmenbedingungen für Kreativität, Spontanität und technologische oder soziale Neuerungen.Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 41995, S. 38; Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 96; Renate Mayntz: Soziologie der Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 81f.Im Kontrast dazu boten frühneuzeitliche Verwaltungen mit ihrem geringeren Formalisierungsgrad und der flexiblen Anpassungsleistung von Routinen einen institutionellen Rahmen, aus dem durchaus grundlegendere Neuerungen entstehen konnten. Doch um diese zu kontextualisieren, ist es notwendig, sich eben und insbesondere mit jenen kleinen, unscheinbaren Formen des Wandels administrativer Praktiken auseinanderzusetzen.FazitEs sollte deutlich geworden sein, dass der Begriff der Innovation als analytische Kategorie für die historische Untersuchung von Verwaltungen seine Herausforderungen mit sich bringt. Eine Schwierigkeit liegt in der normativen Aufladung des Begriffs und der impliziten Gleichsetzung von Innovationen mit Fortschritt und Effizienz. Grob heruntergebrochen zeigt sich dabei ein gewisses heuristisches Dilemma: In der Beschreibung eines Prozesses wird das Ziel des Prozesses (etwa: Fortschritt) schon mitgedacht und beeinflusst darum auch, welche Prozesse überhaupt in Betracht geraten. Wie viel Veränderung und Neuerung sind also notwendig, um als Innovation kategorisiert zu werden? Dieses Problem gilt, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, sowohl für die Vormoderne wie auch für die Moderne, da der Begriff von seiner jeweiligen normativen Aufladung kaum entkoppelt werden kann und folglich keine neutrale Beschreibungskategorie darstellt.Godin: Innovation Contested.Zugleich verschärft sich das Problem jedoch bei der unkritischen Übertragung auf die Frühe Neuzeit. Die Fokussierung auf vereinzelte »Innovationen« ohne Kontextualisierung oder die Gleichsetzung von Innovationsdiskursen mit der Praxis birgt immer auch die Gefahr in sich, teleologische Fortschrittsnarrative zu bedienen, die in der jüngeren Forschung zur Verwaltungsgeschichte zu Recht problematisiert wurden. Entsprechend zentral ist die Kontextualisierung und die differenzierte Betrachtung von Innovations-Diskursen einerseits und Fragen nach administrativen Praktiken und institutionellen Rahmenbedingungen andererseits.Zugleich müssen Innovationen in historisch je spezifische zeitgenössische Zeit- und Zukunftskonzeptionen eingebettet werden. Innovationen sind im modernen Verständnis eben nicht einfach nur synonym mit Neuerungen, sondern zielen auf eine positive Konzeption der Zukunft als plan- und gestaltbaren Raum ab. Diese Vorstellung ist, dies sollte deutlich geworden sein, der Frühen Neuzeit weitgehend fremd. Zugleich unterlagen natürlich auch frühneuzeitliche Verwaltungen Wandel und Neuerung. Und hier liegt unseres Erachtens auch die Stärke des Begriffs der Innovation. Dieser kann als Sonde dienen, um sich unterschiedlichen Konzeptionen von Veränderung und Zeitlichkeit zu nähern. In der hier vorgeschlagenen kritischen Wendung des Begriffes erlaubt solch ein Zugriff auch die kritische Hinterfragung jener normativen Implikationen, die dem Innovationsbegriff zugrunde liegen.Vor diesem Hintergrund hat die empirische Auseinandersetzung mit Verwaltung und Innovationen im England des 17. und 18. Jahrhundert ein interessantes Paradox freigelegt: Wenngleich wir es diskursiv mit einer äußerst innovationaversen Gesellschaft zu tun haben, sind doch die institutionellen Rahmenbedingungen in gewisser Hinsicht günstiger für Veränderung und Neuerungen als in modernen administrativen Kontexten. Es ist davon auszugehen, dass frühneuzeitliche Verwaltungen mit ihrem geringeren Maß an Formalisierung, Standardisierung und formaler Regelung Akteuren im Einzelfall mehr individuellen Gestaltungsraum etwa in Bezug auf Verfahrensabläufe und Schreibpraktiken zugestanden. Verwaltungen, die im hohen Maße auf nicht schriftlich fixierten Routinen basieren, so könnte man zugespitzt behaupten, begünstigen die stillschweigende Veränderung und Neuerung. Damit bietet der Blick auf Innovationen in konzeptioneller Hinsicht neben einem vertiefenden Verständnis von Zeitlichkeit und Wandel eben auch die Chance, nach Möglichkeitsräumen und Bedingungen von Innovationen zu fragen. Und hierin liegt unseres Erachtens die große Stärke des Begriffs der Innovation als analytische Kategorie: Statt Innovationen als überzeitliche Größen zu konzipieren und zugleich institutionell und zeitlich zu dekontextualisieren, plädieren wir dafür, Innovationen als Sonde zu nutzen, um das historisch je variable Zusammenspiel von Wandel, Zeitlichkeit und institutionellen Rahmungen freizulegen. http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png Administory de Gruyter

»A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in frühneuzeitlichen Verwaltungen

Administory , Volume 6 (1): 19 – Dec 1, 2021

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de Gruyter
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© 2022 Franziska Neumann et al., published by Sciendo
eISSN
2519-1187
DOI
10.2478/adhi-2021-0002
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Abstract

Innovation ist eines der schillernden Schlagworte der Gegenwart. Der Begriff birgt das verheißungsvolle und zugleich diffuse Versprechen von Produktivität, Kreativität, Effizienz und Fortschrittlichkeit.Jan Fagerberg: Innovation Studies – the emerging structure of a new scientific field, in: TIK Working Papers on Innovation Studies No. 20090104, online unter: http://ideas.repec.org/s/tik/inowpp.html, (15. 01. 2021), S. 1. Für kritische Lektüre und Anmerkungen danken wir ganz herzlich Matthias Pohlig.Auch historisch arbeitende Disziplinen können den Verlockungen des Innovationsbegriffes offenbar nur schwer widerstehen.Das Gros der Arbeiten im Feld der innovation studies stammt traditionell aus den Wirtschaftswissenschaften, vgl. Fagerberg: Innovation Studies, S. 36.Eine oberflächliche Recherche im RI-OPAC, einer Literaturdatenbank mit Schwerpunkt „Mittelalter“ und „Frühe Neuzeit“, liefert beachtliche 1021 Einträge. Dabei wird ein breites Spektrum an Themen unter dem Begriff der Innovation verhandelt: Es finden sich Studien zu technologischen Innovationen, zu ideen- und wissensgeschichtlichen Themen, aber auch sozialgeschichtliche Arbeiten mit Fokus auf Migration und Austauschprozesse und nicht zuletzt biografische Annäherungen an einzelne Herrscherpersönlichkeiten. In den meisten Fällen wird der Begriff der Innovation hier recht unspezifisch als Synonym für Veränderung und Wandel verwendet. Besonders deutlich ist dies etwa in der begrifflichen Kopplung von »Tradition und Innovation« (immerhin stolze 142 Titel), die in der Regel eine sehr unbestimmte Spannung zwischen alt und neu beschreibt. Diese begriffliche Unschärfe ist häufig konstitutiv, auch dann, wenn der Innovationsbegriff weniger beiläufig verwendet wird. Die Frühe Neuzeit, so etwa Anselm Steiger, Sandra Richter und Marc Föcking, sei die »Geburtsstunde der Innovation«, wenngleich die Autoren darauf hinweisen, dass es zeitgenössisch den Begriff in seiner heutigen Verwendung noch nicht gegeben habe.Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking: Einleitung, in: Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking (Hg.): Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kulturund geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa, Amsterdam 2010, S. 7–14, hier S. 8.Nun kannte die Frühe Neuzeit durchaus den Innovationsbegriff in einem auf Neuerung abzielenden Sinn. So wird etwa bei Edmund Coote in seinem »The English School-Master« von 1596 Innovation als »making new« definiert.Edmund Coote: The English Schoole-maister (1596), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: https://leme.library.utoronto.ca/lexicon/entry/216/793 (15. 01. 2021).Samuel Johnson hingegen beschreibt »innovation« 1755 als »change by the introduction of novelty«.Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language (1755), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: https://leme.library.utoronto.ca/lexicon/entry/1345/20477 (15. 01. 2021).Ähnliche Verwendungen finden sich in zahlreichen frühneuzeitlichen Wörterbüchern. Wenngleich der Begriff also in seiner auf Neuerung und Veränderung abzielenden Bedeutung verbreitet war, und zwar vor allem im Englischen und Französischen, so wurde er doch diskursiv anders gerahmt als in der Gegenwart. Denn Innovationen besitzen in einem modernen Verständnis zwei zeitliche Indikatoren: Einerseits verweisen sie auf »das Neue« und andererseits – und dies wird in Arbeiten mit historischem Zuschnitt häufig unterschlagen – auf eine offene, gestaltbare Zukunft.Harald Müller/Florian Eßner: Wissenskulturen – Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Eine Einführung, in: Harald Müller / Florian Eßner (Hg.): Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation, Kassel 2012, S. 13–18, hier S. 13.Diese in den modernen Innovationsbegriff eingeschriebene Perspektive auf eine offene Zukunft gilt allerdings nicht universal, sondern ist selbst Ergebnis eines langfristigen Wandels von Zeitkonzeptionen in der Frühen Neuzeit.Benoît Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation over the Centuries, London 2015.Anders als in der Moderne operieren die beiden zeitlichen Indikatoren von Innovation, das Neue und die Zukunft, in der Frühen Neuzeit unter umgekehrten Vorzeichen: Das Neue galt, idealtypisch zugespitzt, als das Schlechte; und die Zukunft war, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, keine offene, gestaltbare Zukunft, sondern eine sich dem Vorgriff entziehende, geschlossene Zukunft. In der Anwendung des Begriffs der Innovation auf die Frühe Neuzeit ist folglich Vorsicht geboten. Er birgt normative Konnotationen, die für die Frühe Neuzeit nur eingeschränkt gelten. Zugleich finden sich selbstverständlich auch in der Frühen Neuzeit auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Gesellschaftsbereichen Wandel, Neuerungen und Veränderungen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Verwaltungen – die in diesem Heft im Fokus stehen. Um dieser Spannung methodisch zu begegnen, muss genauer zwischen der rhetorischen und diskursiven Rahmung von Veränderung und inneradministrativen Veränderungen und Neuerungen unterschieden werden.Vgl. zur Beschreibungssprache von Veränderungsprozessen etwa den kürzlich erschienenen Band Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020.Ausgangspunkt des Beitrages ist die Annahme, dass sich der Innovationsbegriff in besonderer Weise als analytisches Instrument eignet, um die Besonderheiten frühneuzeitlicher Reform- und Veränderungsprozesse in den Blick zu rücken. Dem zugrunde liegt die Beobachtung, dass alle Veränderungsrhetorik grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu tatsächlichen Veränderungen, Wandel und Reformen steht. Aufgrund seiner normativen Aufladung in der Moderne wie der Vormoderne wird am Begriff der Innovation am eindrucksvollsten deutlich, dass analytische Veränderungsbeschreibungen einer sorgfältigen Kontextualisierung bedürfen. Der Blick auf Innovation als Begriff und analytische Kategorie erlaubt es entsprechend, in diachroner Perspektive grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Verwaltung und Veränderung aufzuwerfen. Statt »Innovationen« zu universalisieren, möchte der Beitrag den Begriff analysieren und damit verbundene Zeit- und Zukunftskonzeptionen freilegen. Zugleich sollen aus einer praxeologischen Mikroperspektive Wandlungsprozesse in Verwaltungen untersucht werden. Der Artikel ist damit auch ein Beitrag zur jüngeren Kulturgeschichte der Verwaltung, die zum einen zurecht vor älteren Narrativen der Modernisierung warnt und stattdessen ihr Augenmerk auf die Kontextualisierung einzelner Verwaltungspraktiken gerichtet hat.Vgl. stellvertretend und neuere Ansätze summierend Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014.Der Beitrag argumentiert – am Beispiel der Innovation – für heuristische Sorgfalt mit analytischen Veränderungsbegriffen, da sie zum einen häufig Modernisierungsnarrative bedienen, und zweitens zeitgenössisch in der Regel selbst normativen Wertungen unterliegen, die ihr Verhältnis zu tatsächlichem administrativem Wandel als spannungsgeladen markieren.Um das spannungsreiche Verhältnis von Innovation und Verwaltung in der Vormoderne zu untersuchen, rücken wir sprachliche, performative und dingbezogene Verwaltungspraktiken in den Mittelpunkt. Die Beispiele betreffen überwiegend England in der Frühen Neuzeit. Um das Verhältnis von Wandel, Zeitlichkeit und Innovationen zu vermessen, gehen wir in drei Schritten vor. Zunächst werden einige methodische und konzeptionelle Vorüberlegungen diskutiert, wohingegen wir uns in einem zweiten Schritt den Semantiken von Wandel nähern. In einem dritten Schritt schließlich werden Verwaltungspraktiken auf ihr Verhältnis zu Innovationen und Neuerungen untersucht. Methodisch orientiert sich der Beitrag an begriffsgeschichtlichen Befunden, an organisationssoziologischen Überlegungen zur Informalität beziehungsweise Formalisierung von Verwaltungshandeln und an jüngeren Arbeiten zur Praxeologie der Verwaltung. Mit diesem Zuschnitt verfolgt der Beitrag zwei Ziele: Zum einen soll ein tiefergehendes Verständnis für die Eigenlogiken und Dynamiken frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns gewonnen werden. Zum anderen kann auf diese Weise das Potenzial des Begriffsfeldes Innovation – Neuerung – Wandel für die historische Analyse ausgelotet werden.Innovation, Wandel und ZeitlichkeitÜblicherweise werden Innovationen als technologische oder soziale Neuerungen definiert.Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, in: EconStor, online unter: http://hdl.handle.net/10419/50299 (15. 01. 2021).Klassisch ist immer noch die Definition von Joseph Schumpeter, der Innovation als »the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way (innovation)« beschreibt.Joseph Alois Schumpeter: The Creative Response in Economic History, in: The Journal of Economic History 7/2 (1947), S. 149–159, hier S. 151.Während die technologische Innovation, etwa die Einführung eines neuen Produkts oder einer neuen Technologie, sich noch einfach greifen lässt, sind soziale Innovationen weitaus schwieriger zu fassen.Gillwald: Konzepte sozialer Innovation; Wolf Rainer Wendt: Soziale Innovationen —Innovation des Sozialen. Begriff und Geschäft der Neuerung im Kontext der Sozialwirtschaft, in: Sozialer Fortschritt 65/1,2 (2016), S. 10–16. Für eine stärkere Integration des privaten und öffentlichen Sektors in das Feld der innovation studies plädiert auch Fagerberg: Innovation Studies, S. 38.So vielversprechend der Begriff der Innovation auf den ersten Blick ist, so sehr entzieht er sich bei näherem Nachdenken jedoch einer genaueren Bestimmung: Handelt es sich auch bei sozialen Innovationen um klar benennbare Gegenstände, und lassen sich mit dem Begriff auch langfristige strukturelle Veränderungen fassen? Was genau braucht es für Innovation, und wer bestimmt dies? Zugleich birgt der Begriff eine gewisse analytische Verheißung: Er verspricht Erklärungskraft mit Blick auf Prozesse von Veränderung und Wandel. Der Begriff der Innovationen ist also einerseits positiv aufgeladen, andererseits ist jedoch häufig unklar, was genau unter einer Innovation verstanden wird, und wie Innovationen von alternativen Begriffen wie etwa Neuerung, Wandel oder Reform abgegrenzt werden können. Bei aller konzeptionellen Uneindeutigkeit ist zugleich klar, dass Innovation offensichtlich etwas mit Zeitlichkeit zu tun hat. Wer von Innovation spricht, meint in aller Regel eine wie auch immer geartete Veränderung und Neuerung, die eine unbestimmte Zukunft verbessern soll.Müller/Eßner: Wissenskulturen, S. 13.Bekanntermaßen hat Reinhard Koselleck die Geburt der »offenen Zukunft« in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und die Sattelzeit gelegt.Reinhart Koselleck: Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Koselleck / Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269–82. bes. S. 278–281 sowie Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 21992. Siehe hierzu auch Christian Link: Zukunft, Vergangenheit in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 146–1436; Daniel Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ›Sattelzeit‹ zu überwinden, in: Wolfgang Breul/Jan Carsten Schnurr (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Göttingen 2013, S. 141–172, bes. S. 141–147.In dieser Zeit öffne sich der Zukunftshorizont endgültig für Fortschrittsglauben und Gestaltbarkeit, während die älteren religiös-prophetischen Zukunftsvorstellungen (die auf einen geschlossenen Zukunftshorizont verwiesen) langsam verblassten. Diese Gegenüberstellung von vormoderner und moderner Zukunftsvorstellung ist natürlich höchst schematisch, und in jüngerer Zeit sind Stimmen lauter geworden, die für eine flexiblere Betrachtung von frühneuzeitlichen Zeitkonzeptionen und vor allem auch Zeitpraktiken plädieren und eine zu enge Fokussierung auf eschatologische Zeithorizonte hinterfragen.Grundsätzlicher zum Problem Wandel und Zeitlichkeit Matthias Pohlig: Wandel und seine Repräsentation, in: Jörg Baberowski (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt am Main 2009, S. 37–61; Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹, S. 147; Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller: Die Autorität der Zeit, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Münster 2007, S. 9–22, bes. S. 12; Stefan Hanß: The Fetish of Accuracy: Perspectives on Early Modern Time(s), in: Past and Present 243 (2019), S. 267–284.Dennoch kann man heuristisch annehmen, dass Innovation in der Frühen Neuzeit eher als problematische Kategorie angesehen wurde. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie von Benoît Godin, der die normativen Konnotierungen des Innovationsbegriffes in diachroner Perspektive untersucht hat. Er zeigt darin, dass Innovation niemals als neutrale Beschreibungskategorie von Veränderungsprozessen fungierte, sondern jenen Prozessen stets eine bestimmte Werthaftigkeit unterstellte. Für den vorliegenden Kontext ist dabei zentral, dass Innovation in der Vormoderne überwiegend negative Implikationen trug, als rhetorische Waffe fungierte und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam seine heutigen, in aller Regel emphatisch positiven Konnotationen erwarb.Godin: Innovation Contested.Aber auch für moderne Prozesse der Veränderung, in Verwaltungen und andernorts, ist nicht davon auszugehen, dass sie mit jenen positiven Implikationen des Begriffs in eins fielen: Auch in der Moderne muss zwischen einer Innovations-Rhetorik auf der einen und alltäglichen Formen von Veränderungen und Neuerung unterschieden werden.Nimmt man diese Überlegung ernst, dann ergibt sich eine interessante kulturgeschichtliche Forschungsperspektive auf eine Geschichte der Innovation. Innovationen sind, so die Ausgangsüberlegung, keine objektiven und überzeitlichen Phänomene, die durch den findigen Historiker oder die findige Historikerin sichtbar gemacht werden müssen, sondern sie sind bereits auf der begrifflichen Ebene eng mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Wandel, Veränderung und Neuerung verbunden. Denn Veränderungen im Allgemeinen und Innovationen im Besonderen entstehen selten aus dem Nichts, sondern es existieren gewisse normative Rahmungen, Ressourcen, Wissensordnungen und institutionelle Arrangements, die soziale und technische Neuerungen wahrscheinlicher machen.Jan Fagerberg: Innovation. A Guide to Literature, Working paper version of the introductory chapter in »Oxford Handbook of Innovation«. Presented at the Workshop »The Many Guises of Innovation. What we have learnt and where we are heading«. Ottawa, October 23–24, 2003, organized by Statistics Canada, online: http://folk.uio.no/janf/downloadable_papers/03fagerberg_innovation_ottawa.pdf (15. 01. 2021), S. 11f.; ähnlich auch Jerald Hage: Die Innovation von Organisationen und die Organisation von Innovationen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11/1 (2000), S. 67–86.Obwohl also die positive Wahrnehmung von Innovationen mit ihrem klaren zeitlichen Fokus auf eine veränderbare Zukunft der Vormoderne fremd ist, finden sich zugleich natürlich auch in der Frühen Neuzeit auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Gesellschaftsbereichen Wandel, Neuerungen und Veränderungen. Diese wurden lediglich diskursiv anders gerahmt als in der Moderne. Dies gilt insbesondere für frühneuzeitliche Verwaltungen, die, wie zu zeigen sein wird, rhetorisch jeder Form von auf die Zukunft ausgerichtetem Wandel überaus skeptisch gegenüberstanden. In jedem Fall ist Vorsicht angebracht, nicht durch die Benutzung des Innovationsbegriffs in ein konventionelles teleologisches Fortschrittsnarrativ zu verfallen und Neuerungen in Verwaltungen zweckrationalistisch in einen Kontext von Modernisierung, Rationalität und Effizienz zu stellen. Entsprechend ist es problematisch, gewisse Veränderungen ex post als Innovationen zu deklarieren.Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei grundlegende methodische Konsequenzen: Zum einen müssen die institutionellen Rahmenbedingungen untersucht werden, die Veränderung, Wandel und Neuerung ermöglichen (oder verhindern). Zugleich bedeutet dies für historisch arbeitende Disziplinen aber eben auch, zeitgenössische Zeitkonzeptionen und Perspektiven auf Veränderung und Wandel zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass es nicht nur gewisser struktureller Rahmungen bedarf, die Innovationen begünstigen, sondern auch eines gewissen mindset, nämlich einer positiven Sicht auf die Zukunft als offenen, durchaus fragilen, aber dennoch gestaltbaren Raum. Statt also Innovationen isoliert und dekontextualisiert zu betrachten, soll im Folgenden das Spannungsfeld von Wandel, Innovation und Zeitkonzeptionen im frühneuzeitlichen England betrachtet werden.Semantische AushandlungenFragt man nach Innovationen in Verwaltungsorganisationen der Frühen Neuzeit, ergibt sich zunächst ein semantischer Befund: Wenig überraschend angesichts der fortschrittsaversen Haltung frühneuzeitlicher Gesellschaften war Innovation ein durchweg negativ besetzter Begriff. Er signalisierte den Bruch mit dem Hergebrachten und der Tradition zugunsten von Veränderungen, die, anders als das Bestehende, nicht durch die Prüfung der Zeit gegangen waren. Dieses konkrete Verständnis des Begriffs leitet sich aus dem klassischen Latein ab: Während renovatio eine Veränderung markierte, die eine Rückkehr zu einem (verlorenen) Idealzustand anzeigte, wurde innovatio als eine Veränderung verstanden, die mit diesem Idealzustand bewusst brach und allein aufgrund dieser Tatsache als schlecht zu erachten war. Benoît Godin zeichnet diese negative Bedeutung von Begriff und Idee von Innovation für die Frühen Neuzeit auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern eindrucksvoll nach. Da Innovation eine Veränderung zum Schlechteren bzw. die Veränderung selbst als schlecht markierte, wurde der Begriff in aller Regel dann verwendet, wenn für den status quo optiert wurde.Godin: Innovation Contested, Kapitel 4–6. Vgl. auch für die spezifisch englische Variante dieser Diskussion Phil Withington: Society in Early Modern England. The Vernacular Origins of Some Powerful Ideas, Cambridge 2010, S. 73–101.In ihrer begriffsgeschichtlichen Studie zum Begriffsfeld »Reform« zeigt Jonna Innes für den britischen Kontext, dass sich diese Gebrauchsweisen auch im 18. und 19. Jahrhundert ungebrochen fortsetzten. Spätestens seit »Reform« als Begriff und Anliegen ab den frühen 1780er-Jahren merklich an politischer Konjunktur gewann, fungierte »Innovation« als ein Schlagwort all jener, die sich als Gegner jeglicher Reformprozesse verstanden.Joanna Innes: »Reform« in English Public Life. The Fortunes of a Word, in: Arthur Burns / Joanna Innes (Hg.): Rethinking the Age of Reform. Britain 1780–1850, Cambridge 2003, S. 71–97. Zur sich öffnenden Konnotationen des Reform-Begriffs auch in der außerenglischen Debatte siehe Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: GGb 5, S. 313–360. Vgl. zum weiteren Kontext der Reformdebatte Sebastian Meurer: The Dawning of the Age of Reform. Epistemic and Semantic Shifts in Georgian Britain, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 62–84.Denn wohingegen Reform als offener Begriff operierte, dem – je nach rhetorischer Absicht – entsprechende Konnotationen beigemischt werden konnten, besaß der Begriff der Innovation seit jeher kraftvolle negative Implikationen. Wer ihn nutzte, konnte sicher gehen, die gewünschten Abwehrreflexe zu provozieren.Derlei Dynamiken zeigen sich nicht allein mit Blick auf Verwaltungsorganisationen, sondern in besonderer Klarheit im Umfeld politischer Reformprozesse. Parlamentsdebatten der 1780er-Jahre machen beispielsweise deutlich, welch glänzende rhetorische Effekte der Begriff erzielte, wie machtlos Reformanhänger gegenüber gerade diesem Begriff waren und gegen welche impliziten und expliziten Vorbehalte sie in diesem Zusammenhang zu argumentieren hatten. Deutlich wird all dies beispielsweise in der Debatte um einen Vorschlag zur Reform parlamentarischer Repräsentation im House of Commons, den William Pitt der Jüngere 1785 – in seiner Rolle als Prime Minister – einbrachte. In seiner Eröffnungsrede antizipierte Pitt zahlreiche Vorbehalte. Im Bewusstsein, dass zahlreiche Members of Parliament gegenüber »every species of reform« feindlich gesinnt waren, versuchte Pitt die Befürchtung auszuräumen, dass die vorgeschlagene Reform weiteren Veränderungen Bahn bräche und, sobald das »daring enterprize of innovation« einmal begonnen habe, nicht mehr zu bremsen sei. Er war zudem bedacht, die vorgeschlagene Reform gerade nicht als Innovation zu markieren: »The objection to reform, under the idea of innovation, would not hold good [...], for it was not an innovation«.William Cobett (Hg.): The Parliamentary History of England from the Earliest Period to the Year 1803, Bd. XXV, London 1815, Sp. 432–434.Damit freilich hatte Pitt, wenn auch ex negativo, jenen Teufel an die Wand gemalt, der den Reformgegnern als wichtigstes Schlagwort diente. »Innovation«, so argumentierten jene, »was to be dreaded, and avoided as much ass possible in all establishments.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 455.Innovation nämlich schaffe eine Präzedenz: »If a door were once opened to innovation and experiment, there was no knowing to what extent it might be carried.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 463. Ähnlich auch die Einlassung von Lord Campbell: »The door once opened for innovation and experiment, the wisest among them could not say where it would end.« Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 470.Wie könne man, so beispielsweise Lord North in einer Einlassung gegen das Gesetz, die altehrwürdige britische Verfassung antasten, die dem britischen Volk die beste Form politischer Repräsentation an die Hand gegeben habe? »The means were provided by our ancestors, and had been sanctioned by experience, the test of truth.«Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 460.Derlei Argumente wurden derweil außerhalb des Parlaments zusätzlich untermauert, etwa in einer Predigt, die Reverend George Berkeley im Januar 1785 in der Kathedrale von Canterbury hielt. Er zeigte darin »the danger and the sin of making violent innovations in any form that hath been long and quietly established.« Berkeley erkannte zwar an, dass sanfte Veränderung der Modus allen Lebens und daher unvermeidbar war, »but great and violent innovations no individual is entitled to make.«George Berkeley: The Danger of Violent Innovations in the State Exemplified from the Reigns of the two first Stuarts, in a Sermon preached at the Cathedral and Metropolitical Church of Christ, Canterbury, on Monday, Jan. 31, 1785, Canterbury 1785, S. 9–10.Gegenüber solchen politischen und religiösen Verweisen auf Alter und Erfahrung als Garanten des status quo blieb den Verfechtern der Bill nichts, als den »dread of innovation« zu verurteilen, der die Debatte beherrsche, sowie die automatischen Vorbehalte zu beklagen, »which the idea of innovation raised in the minds«.Cobett, Parliamentary History, XXV, Sp. 462 und Sp. 466.Unter solchen rhetorischen Vorzeichen jedenfalls war kein Staat zu machen: Wie bereits zweimal zuvor verlor die Regierung die nachfolgende Abstimmung.Weisere Reformer zogen es darum vielfach vor, von der Verwendung des Begriffes abzusehen oder ihn immerhin in einen anderen Kontext zu setzen. Charles James Fox beispielsweise bevorzugte es, dem Kind einen anderen Namen zu geben. »The principle of innovation«, argumentierte er, »should more properly be called amendment«. An anderer Stelle gab er zudem dem Begriff »improvement« den Vorzug.Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 466.Fox war hier ganz auf der Höhe der Zeit, denn allerorten ist zeitgenössisch der Versuch zu beobachten, Innovationen und Reformprojekte in ein annehmbares rhetorisches Gewand zu hüllen. Derek Beales hat dieses semantische Feld um den Reformbegriff einmal zusammengestellt. Begriffe wie »amelioration«, »amendment«, »modification«, »correction«, »promotion«, »reformation«, »improvement«, »renovation«, »restoration«, »remedy«, »regulation«, »redress«, »reconstruction«, »repeal«, »intervention« oder »interposition« – um nur einige zu nennen – wurden allenthalben in Anschlag gebracht, um Reformprojekte argumentativ zu stützen, wobei »improvement« schnell zum verbreitetsten und verträglichsten Terminus avancierte.Derek Beales: The Idea of Reform in British Politics, 1829–1850, in: Timothy Charles Willliam Blanning/Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 159–174, hier II, S. 162–3. Siehe auch zum Begriff »improvement« Innes: »Reform« in English Public Life.Auffällig ist daneben aber auch die Präferenz für die Vorsilbe »re-«, die bei aller Veränderung immerhin die Rückkehr zu einem Vorzustand suggerierte und die durch die Verneinung irgendwelcher Neuerungen der Veränderung den Schrecken zu nehmen suchte. Das ändert nichts an der grundlegenden Einsicht, dass Reformprojekte, insofern sie Bestehendes antasteten, einen schweren Stand hatten. Die Nachwirkungen radikaler politischer Veränderungen wie der Französischen Revolution verhärteten die Fronten gegen alles Neue zusätzlich. Hatte etwa der Strafrechtsreformer Samuel Romilly im Jahr 1790 noch geglaubt, die Reformen in Frankreich könnten den britischen »horror of innovation« mildern helfen, so musste er 1808 erkennen, dass das Gegenteil der Fall war. Die Revolution habe dafür gesorgt, dass jeder Reformversuch einem »stupid dread of innovation« begegne.Samuel Romilly: Memoirs of the Life of Sir Samuel Romilly, 3 Bde., London 1840, S. 253–4.Der Autor eines Reformtraktats, publiziert 1810 in London, fand es unter diesen Umständen offensichtlich angebracht, bereits im Obertitel seiner Schrift eine Klarstellung unterzubringen: »Reform without Innovation«.Anon.: Reform without Innovation: Or, Cursory Thoughts on the Only Practicable Reform of Parliament, Consistent with the Existing Laws, and the Spirit of the Constitution, London 1810.In aller Regel waren die Debatten weniger hitzig, wenn es um administrative Reformen ging, doch auch hier lassen sich die selben rhetorischen Grundmuster und ideologischen Reflexe erkennen. Mit Blick auf die Reform der Treasury schien es etwa der Reformkommission der Public Accounts 1781 angeraten, ihre Vorschläge mit Rücksicht auf die »Wisdom of our Ancestors« und die »Experience of Ages« mit großer Vorsicht zu formulieren. Jede »Idea of Innovation«, so wussten auch diese Männer, würde zu Unruhe und Widerstand Anlass geben.The Fifth Report of the Commissioners appointed to examine, take, and state, the Public Accounts of the Kingdom, 28 November 1781, in: The Journals of the House of Commons 38 (1803), S. 572–577, hier S. 577.Ähnlich war die Diskussionslage beispielsweise mit Blick auf die Zollbehörde, zumal sie zu den ältesten Verwaltungsorganen des Königreichs gehörte. Sie war eine »great and ingenuous Fabrick [...] which has been erecting [...] by degrees almost an age«.The National Archives (Kew) [TNA], T1/123, no.4, Scottish Customs Commissioners to the Treasury, 31. 05. 1710.In den Augen vieler Zeitgenossen machte sie das nahezu unantastbar, doch konnte das selbe Argument auch für Reformversuche genutzt werden. Adam Smith, selbst für eine Zeit lang Commissioner of Customs in Schottland, war etwa der Ansicht, ihr hohes Alter habe »introduced and authorized many abuses«. Die dahinterliegende Idee war jedoch auch hier erkennbar eine Form der renovatio, also eine Rückkehr zu einer unkorrumpierten Urform, nicht etwa die Einführung von Innovationen.Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 2, Oxford 1979, p. 897.Diese sah auch Smith mit Vorbehalten, insbesondere im politischen und administrativen Bereich: Es erfordere »the highest effort of political wisdom«, um zu entscheiden, ob Reformen in Richtung einer Wiederherstellung der »authority of the old system« zu laufen hätten, oder ob es angeraten sei »to give way to the more daring, but often dangerous spirit of innovation«.Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, Cambridge 2002, S. 273.Innovation in der Frühen Neuzeit, als Begriff und als Idee, entbehrte folglich, anders als in der Moderne, jeglicher Verlockung. Das gilt nicht allein, aber grundsätzlich auch für alle administrativen Kontexte. Der praktischen Umsetzung von Reformen und Veränderungen war sie darum bestenfalls wenig förderlich und schlimmstenfalls hinderlich.Sieht man von der offenen semantischen Verhandlung von Neuerungsprozessen in frühneuzeitlichen Verwaltungsorganisationen ab, dann ergibt sich ein anderes Bild. Unterhalb der expliziten Thematisierungsschwelle fanden permanent und allenthalben zahlreiche Veränderungen kleineren und größeren Ausmaßes statt. Dies umfasste auch solche Veränderungen, die explizit Neues mit sich brachten, und gilt übrigens auch weit über den englischen Fall hinaus: Wenngleich der Begriff der Innovation im deutschsprachigen Raum eher unüblich war, ist auch hier – wie auch im französischen Fall – von einer Unterscheidung zwischen Reform als Wiederherstellung eines idealisierten Zustandes in der Vergangenheit und einer auf Veränderung und die Zukunft abzielenden Neuerung auszugehen.Besonders gut untersucht im Kontext von theologischen Diskussionen, vgl. Pohlig, Wandel. Einen britisch-deutschen Vergleich zu Reformmaßnahmen im betrachteten Zeitraum bietet Eckhart Hellmuth: Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Timothy Charles Willliam Blanning / Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 5–23; Thomas Maissen: Conclusion. Bringing a Despotic Agenda Into the Public Sphere – Concluding Remarks on Languages of Reform, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 405–424.Folglich muss zwischen der sprachlichen Konzeption von Wandel etwa in Reformdebatten und dem administrativen Alltagsgeschehen analytisch unterschieden werden. Denn Verwaltungen waren in der Praxis mitnichten so innovationsavers, wie sie sich auf der rhetorischen Ebene stilisierten. Im Folgenden soll daher ein genauerer Blick auf die Praxis und die Praktiken der Verwaltung geworfen werden, um eine weitere Perspektive auf Wandel und Neuerung in frühneuzeitlichen Verwaltungen zu gewinnen.Administrativer Wandel zwischen Innovations-Diskursen und AlltagspraxisIm britischen Kontext werden konzertierte und zentral durchgeführte Reformen für gewöhnlich in den 1780er-Jahren verortet. Erstmals wurde im politischen Diskurs der Zeit offen von der Notwendigkeit administrativer und parlamentarischer Reformen gesprochen und über ihre konkrete Gestalt gestritten. Mit der Einführung neuer administrativer Rechenschaftstechniken, der Abschaffung von Sinekuren und der schrittweisen Überholung vermeintlich vormoderner Verwaltungslogiken markieren die parlamentarisch organisierten Reformen der Exekutive in diesen Jahren in vieler Hinsicht einen deutlich sichtbaren Bruch. Erkennbar ist dies auch an der Anwendung einer neuen politischen Sprache: Erst im Umfeld der Reformen zwischen 1780 und 1785 zeigten die Mitglieder der entsprechenden Reformkommissionen ein klares Bewusstsein für ideale, durch gesteuerte Veränderung zu verwirklichende bürokratische Formen und, davon abgeleitet, eine explizite Reflexion über den Neuheitsgehalt ihrer Vorschläge.John Torrance: Social Class and Bureaucratic Innovation. The Commissioners for Examining the Public Accounts 1780–1787, in: Past and Present 78 (1978), S. 56–81; Philip Harling: The Waning of Old Corruption. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996, Kapitel 1; Innes: »Reform« in English Public Life.Bezeichnend ist dabei weiterhin, dass die oben angesprochenen Vorbehalte gegen Reformvorhaben und Innovationen aller Art stets mitgedacht wurden:We are well aware of the Difficulties that must for ever attend the introducing Novelty of Form into ancient Offices, framed by the Wisdom of our Ancestors, and established by the Experience of Ages; they are considered as incapable of Improvement; the Officers educated in, and accustomed to the Forms in Use, are insensible of their Defects, or, if they feel them, have no leisure, often no Ability, seldom any Inclination, to correct them; alarmed at the Idea of Innovation, they resist the Proposal of a Regulation, because it is a Change, though from a perplexed and intricate, to a more simple and intelligible System.The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.Auf zentraler Regierungsebene, das heißt im Parlament und den führenden Organen der Exekutive, waren trotz aller Vorbehalte die Voraussetzungen gegeben, um aus heutiger Sicht mit einiger Zuversicht von einem Moment der Innovation zu sprechen. Tatsächlich werden auf der Basis solcher Befunde in der Forschungsliteratur eine ganze Anzahl von Transformationsprozessen gewöhnlich in diesem Zeitraum verortet. Dies betrifft auch die klassische verwaltungsgeschichtliche Frage nach dem Übergang vormoderner Amtsträgerschaft zum modernen Verwaltungsbeamtentum. Für die englische Zollbehörde sind beispielsweise seit Ende des 17. Jahrhunderts hier und dort Forderungen nach Maßnahmen belegt, die als wichtige Bausteine zu einem solchen Prozess interpretiert werden können: Anstatt durch den Bezug von Gebühren sollten Zollbeamte über ein festes Gehalt entlohnt werden; das Verbot politischer Betätigung sowie der Ausübung kommunaler Ämter und privater Nebenberufe sowie weitere Maßnahmen sollten schädliche soziale Bindungen vor Ort unterbinden; eigens eingeführte Amtstagebücher sollten eine ungebrochene Rechenschaftslegung erzwingen; und eine technische Ausbildung sowie die Beförderung auf der Grundlage von Erfahrung und Können sollten der allgegenwärtigen Patronage den Nährboden entziehen. Im Effekt zielte all dies, so der Tenor der relevanten Forschungsliteratur, auf das Weber’sche Ideal eines geschulten, rechenschaftspflichtigen, unabhängigen und allein der Verwaltungslogik folgenden Amtsträgers. Die Reformen der 1780er-Jahre bilden in diesem Narrativ darum einen geeigneten Kulminationspunkt solcher Prozesse, weil die parlamentarisch eingesetzten Kommissionen zur Reform des Zolls oder der Treasury viele dieser Aspekte in ihren Empfehlungen aufgriffen. Zudem wurde das technische Stückwerk einzelner Reformmaßnahmen nun erstmals in die Form eines zielgerichteten und absichtsvollen Prozesses gegossen, der Effizienzsteigerung und moderne Verwaltungsformen explizit zum Ziel hatte.Vgl. Henry Parris: The Origins of the Permanent Civil Service, 1780–1830, in: Public Administration 46 (1968), S. 143–166; Gerald Edward Aylmer: From Office-Holding to Civil Service. The Genesis of Modern Bureaucracy, in: Transactions of the Royal Historical Society 30 (1980), S. 91–108; John Brewer: Servants of the Public – Servants of the Crown. Officialdom of Eighteenth-Century English Central Government, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Hg.): Rethinking Leviathan. The Eighteenth-Century State in Britain and Germany, Oxford 1999, S. 127–47; Hannes Ziegler: The Preventive Idea of Coastal Policing. Vigilance and Enforcement in the Eighteenth-Century British Customs, in: Storia della Storiografia 74 (2018), S. 75–98.Nicht von ungefähr wurde all dies, ganz emphatisch, verstanden als eine Veränderung von einem »perplexed and intricate, to a more simple and intelligible System«.The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.Der unmittelbare Eindruck wirklicher, zielgerichteter Veränderung hin auf ein bestimmtes Ideal verschwindet schnell beim näheren Blick auf einzelne, unterhalb dieses Meta-Diskurses stattfindende Diskursfelder und zerfällt in die modern wie vormodern vertrauten Interessensfelder, in denen die betreffenden Akteursgruppen qua Amt, politischer Affiliation und sozialem Status agierten. So waren sich die Mitglieder der Zollkommission und der Treasury – Akteure also, die in der Regel nicht selbst an der Formulierung von Reformideen beteiligt waren oder dies jedenfalls nicht als kohärente soziale Gruppe taten – jederzeit bewusst, dass die Einführung einer bestimmten Norm keineswegs gleichbedeutend mit ihrer Umsetzung war. In einer kritischen Auseinandersetzung mit jahrzehntelanger Verwaltungspraxis im Bereich des Zolls stellte beispielsweise Sir William Musgrave, langjähriger Commissioner der Zollbehörde, Anfang der 1780er-Jahre fest, dass wichtige Maximen von den lokalen Amtsträgern, ihren unmittelbaren Vorgesetzten vor Ort und selbst der Zentralbehörde beständig ignoriert worden waren, obwohl sie bereits nahezu 100 Jahre formal Geltung hatten. So wurde die im Hinblick auf Korruptionsbekämpfung wichtige Regel, wonach Amtsträger des Zolls nicht in ihren Heimatgemeinden eingesetzt werden sollten, von der Zentrale zwar immer wieder und bei jeder passenden Gelegenheit wiederholt, in der Praxis aber meist ignoriert.Ähnliches galt für den Grundsatz, wonach Amtsträger halbjährlich auf einen neuen Posten versetzt werden sollten. Auch die Maßgabe, dass Amtsträger nur ein einziges Zollamt ausüben sollten, um Ämterhäufungen und Absentismus zu vermeiden, wurde in vielen Fällen unterlaufen und ignoriert.Arthur L. Cross (Hg.): Eighteenth Century Documents relating to the Royal Forests, the Sheriffs and Smuggling, London 1928, S. 248–288.Von den allenthalben als notwendig erachteten administrativen Regeln war die bürokratische Praxis also weit entfernt. Die politischen und sozialen Fliehkräfte waren für derlei Regeln auf allen Ebenen zu stark, und dies nicht etwa allein deshalb, weil – wie man aus moderner Sicht vermuten könnte – die Verlockung von Korruption und Patronage zu groß war. Selbstverständlich achtete jeder Akteur und jede Akteursgruppe auf den eigenen Vorteil, und die Besetzung niederer Amtsposten mit politisch opportunen Kandidaten schlug im Ernstfall jede abstrakte Regel. Mit gleichem Recht konnte jedoch beispielsweise behauptet werden, dass die Einsetzung Ortsfremder der erfolgreichen Zollverwaltung nur schaden könne, da ihnen die nötigen lokalen Kenntnisse fehlten. Mithin kennzeichnet die Umsetzung derlei administrativer Innovationen im konkreten Verwaltungsalltag, dass sie beständig wiederholt und ›neu‹ eingeführt werden mussten, um allenfalls minimale Beachtung zu finden. Entsprechend ist es zwar möglich, das Auftreten einer bestimmten Reformidee auf zentraler Regierungsebene auszumachen und zu datieren, doch bleibt es zugleich fraglich, in welchem Maße derlei Ideen jemals praktische Gestalt annahmen. Auf lokaler Ebene, auf den unteren Verwaltungsebenen und selbst unter Gesichtspunkten von in der Zentrale vertretenen Interessen wurden andere Verhaltensangebote häufig für genauso legitim erachtet wie derlei Reformbestimmungen. Gerade unter den Bedingungen einer vormodernen und verhältnismäßig wenig formalisierten Bürokratie waren solche Reformmaßnahmen folglich nicht mehr als ein Angebot, von dem situativ Gebrauch gemacht werden konnte, das in der Praxis jedoch unter einer Vielzahl älterer, dem Herkommen, der Gewohnheit oder Partikularinteressen geschuldeten Praktiken zu verschwinden drohte.Derlei Gewohnheitspraktiken orientierten sich dabei in aller Regel an einem routinehaften Gebrauch bestimmter Verwaltungsinstrumente, die eher traditionellen Zwecken der jeweiligen Entscheidungsträger folgten. Mochten administrative Reformregularien auf abstrakter Ebene auch einleuchten, so standen ihnen oft genug legitime soziale Interessen der beteiligten Akteure entgegen. Im Zweifel zogen es beispielsweise zentrale Behördenvertreter häufig genug vor, die Vergabe von Ämtern in einer der Patronagelogik gehorchenden Weise zu vollziehen. Derlei vermeintliche ›Rückfälle‹ in traditionale Verwaltungsmechanismen – etwa unter der Regierung Walpole – waren ebenso häufig wie tiefgreifend.Harling: Waning of Old Corruption; Patrick Walsh: The Making of the Irish Protestant Ascendancy. The Life of William Conolly, 1662–1729, Woodbridge 2010, S. 125–152; David A. Fleming: Politics and provincial people. Sligo and Limerick, 1691–1761, Manchester 2010, S. 163–191.Mithin sind sie bestimmten politischen Konstellationen geschuldet, die jeder teleologischen Interpretation einer langsamen, aber unaufhaltsamen Durchsetzung ›moderner‹ Verwaltungslogiken widersprechen. Ungeachtet der praktischen Konsequenzen eines Festhaltens an überkommenen Verwaltungsmechanismen befanden sich die jeweiligen Entscheidungsträger unter den Vorzeichen des zeitgenössischen Zeit- und Innovationsverständnisses außerdem insofern im Recht, als sie einer hergebrachten Praxis folgten und gefährlicher Neuerung damit eine Absage erteilten.Nicht vergessen werden sollte dabei zudem, dass auch die Einführung neuer und scheinbar moderner Formen und Regularien keineswegs allein oder vordringlich dem Diktat administrativer Effizienz folgen musste. Die Abschaffung von Zollgebühren zugunsten von Gehältern, die Beseitigung einer Anzahl von Sinekuren auf Lebenszeit und die damit verbundene Begrenzung des Dienstalters für Zollangestellte im Hafen von London – alles Maßnahmen eingeführt im Zuge der Zollreformen in den 1780er-Jahren – können zwar auf den ersten Blick als innovative Reformen zur administrativen Effizienzsteigerung verstanden werden. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass – wie Spike Sweeting gezeigt hat – derlei Maßnahmen auch darauf zielten, die Zollbehörde von alternden Sinekuristen zu befreien und als erneuertes Reservoir für Patronageakte für die Lords der Treasury zu erschließen.Spike Sweeting: Capitalism, the State and Things. The Port of London, circa 1730–1800, unpublizierte Dissertation, University of Warwick 2014, S. 108–158.Insofern diese Maßnahmen also Neuland betraten, mag die Rede von Innovation gerechtfertigt sein. Jede Anmutung von Effizienzsteigerung und Professionalisierung, die dem modernen, normativen Innovationsbegriff auch innewohnt, wird jedoch durch die bürokratiefremden Zwecke solcher Maßnahmen grundsätzlich infrage gestellt, ganz zu schweigen von der impliziten Annahme eines zielgerichteten Prozesses von Modernisierung, der in solchen Momenten bestenfalls rückläufig erscheint. So betrachtet wird vielmehr eindrucksvoll deutlich, in welchem Maße eine solche Perspektive Gefahr läuft, der Gestalt und Richtung zeitgenössischen bürokratischen Wandels Gewalt anzutun. Im Sinne des Interessensfeldes »Patronage«, das auf allen Ebenen der Exekutive wie auch insbesondere in lokalen Kontexten von systemerhaltender und struktureller Bedeutung war, waren solche Absichten und die damit verbundene Aneignung von Verwaltungsressourcen keineswegs dysfunktional: Der Reformprozess erfüllte in den Augen seiner Protagonisten seinen Zweck.All dies verdeutlicht, dass der eingangs dieses Abschnitts betrachtete Reformdiskurs der 1780er-Jahre, der auf zentraler Regierungsebene stattfand, in einem deutlichen Kontrast nicht nur zum Verwaltungsalltag, sondern auch zu den politischen und ökonomischen Absichten bestimmter Interessensgruppen in der Zentrale stand. Gerade darum erscheint es uns wichtig, prominente Reformdiskurse mit Vorsicht zu betrachten und vorschnelle Rückschlüsse auf zeitgenössisch stattfindende Innovationsprozesse zu vermeiden. Wandel und Veränderung in administrativen Kontexten folgte zeitgenössischen Spielregeln, die sich modernen Begrifflichkeiten vor allem dann widersetzen, wenn diesen eine normative Aufladung innewohnt, die sich nicht mit dem zeitgenössischen (Zeit-)Verständnis deckt; es gilt daher umso mehr, diese in ihren historischen Kontexten zu untersuchen. Die normative Diskursebene ist hiervon ein wichtiger Teil. Doch ist sie – in der Vormodere ebenso wie unter modernen Bedingungen – häufig nur Produkt, Spielball und rhetorisches Aushängeschild anderswirkender Kräfte und darum für sich betrachtet irreführend.Ein weiterer Aspekt der Problematisierung des analytisch mitunter schwierigen Verhältnisses von Reformrhetoriken und administrativer Praxis im historischen Kontext ist die Erkenntnis, dass Wandel, Veränderungen und bürokratische Neuerungen in vormodernen administrativen Kontexten vielfach – und angesichts der politischen und gesellschaftlichen Belastung der Innovationssemantik vielleicht sogar in der Mehrheit der Fälle – in aller Regel nicht als Neuerungen oder Innovationen markiert wurden. Selbst im Binnendiskurs einzelner Verwaltungsorgane charakterisiert die Einführung von Neuerungen stattdessen häufig eine bemerkenswerte Beiläufigkeit. Mindestens vor Anbruch jener vielzitierten »Ära der Reformen« seit den frühen 1780er-Jahren verblieb die Einführung selbst tiefgreifender administrativer Maximen im Modus des Technischen. Die zitierte Bestimmung innerhalb des englischen Zolls etwa, dass Amtsträger niemals dort eingesetzt werden sollen, wo sie »related or habituated« waren – eine Bestimmung, die nicht allein von der Zollbehörde, sondern auch von der Treasury und bis hinein ins Privy Council diskutiert wurde – blieb auf allen Ebenen eine nüchterne technische Anweisung, obwohl sie in ihren praktischen Konsequenzen kaum radikaler sein konnte und dezidiert mit bisherigem Gebrauch brach.Ziegler: Preventive Idea, S. 94. Zur Zollbehörde und bürokratischer Professionalisierung vgl. William B. Stephens: The Seventeenth-Century Customs Service Surveyed. William Culliford’s Investigation of the Western Ports, 1682–84, Farnham 2012; William J. Ashworth: Customs and Excise. Trade, Production, and Consumption in England 1640–1845, Oxford 2003; John Brewer: The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688–1783, London 1989.Der Grund dafür ist schlicht darin zu suchen, dass solchen Reformvorhaben in aller Regel die zukunftsgerichtete Vision fehlte, die einer emphatischen Aufladung solcher Maßnahmen den Nährboden geboten hätte. Nirgends findet sich im Umfeld der Einführung dieser Regel die für ein Reformvorhaben typische Kontrastierung eines schlechten Ist-Zustandes mit einem zu erreichenden Ideal. Denn verhandelt wurde in den Augen der Beteiligten hier in aller Regel die Behebung eines konkreten Missstandes, nicht aber die Bewegung hin auf ein explizit formuliertes oder implizit mitgedachtes Idealziel. Es fehlte, mit anderen Worten, in der Regel die Zukunft als Abstraktum und damit die Markierung der Gegenwart als Bruch mit der Vergangenheit. Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass keinerlei Veränderung stattfand. War die Umsetzung, insbesondere in der Zollbehörde, auch bisweilen sporadisch und lückenhaft, so führte sie doch zu einer merklichen Veränderung administrativer Praxis auf Grundlage einer Regelung, die sich ohne Weiteres als Neuerung verstehen lässt – und die doch semantisch an keiner Stelle so verhandelt wurde.Schließlich ist jenseits der expliziten sprachlichen Verhandlung von Reformen und der mehr oder minder beiläufigen Einführung von administrativen Neuerungen auch erkennbar, dass die Einführung bestimmter Verwaltungstechniken auf lokaler Ebene dem beständigen Spiel lokaler Aneignung ausgesetzt war. Aufgrund des geringen Grades bürokratischer Formalisierung insbesondere auf den unteren und dezentralen Ebenen der Zollverwaltung in den Außenhäfen Großbritanniens war beispielsweise der konkrete Umgang mit bestimmten Neuerungen ein durchaus kreativer Prozess. So führte die zitierte Maßgabe einer regelmäßigen Versetzung einzelner Amtsträger auf lokaler Ebene zu der Gewohnheit und dem Anspruch, einzelne Posten nach Belieben – und häufig gegen Geldzahlung – zu tauschen.Vgl. beispielsweise TNA, CUST59/10, 24. 05. 1762, 2. 8. 1762; CUST59/76, 27. 7. 1762; CUST62/59, 28. 4. 1718.Die bereits seit den 1690er-Jahren bestehende Pflicht für die Amtsleute der Küstenwache, über ihr Verhalten genaues Tagebuch zu führen, trieb im Laufe der Jahrzehnte wiederum ganz eigene Blüten. Neben der durchaus findigen Praxis, Tagebucheinträge entweder gleich zu fälschen oder voneinander abzuschreiben (oder dies von einem Schreiber gegen kleinen Lohn tun zu lassen), zeigt die lokale Praxis auch die Gewohnheit, Tagebücher nach völlig eigenem Gutdünken zu führen und die zentral formulierten Anforderungen an diese Form der Rechenschaftsablage zu unterlaufen. Dies reicht bis zur Möglichkeit, vorgedruckte und folglich standardisierte Formulartagebücher für den eigenen Gebrauch umzufunktionieren.TNA, CUST59/71, 10. 6. 1735; TNA CUST97/2, 20. 10. 1708; CUST97/3, 13. 10. 1718, 23. 11. 1719; CUST97/4, 22. 2. 1720; CUST97/75, 22. 8. 1747.Jenseits der Frage, ob und inwieweit zentral formulierte Anliegen überhaupt im Alltagsgeschäft in Anwendung kamen, ist daher auch jederzeit davon auszugehen, dass die Anwendung neuer bürokratischer Techniken und Routinen umgehend zu neuen Spielräumen und Umgangsformen auf lokaler Ebene führte, die in ihrer Art ebenfalls neu waren, den Intentionen der Zentrale aber allenfalls entfernt ähnelten.Betrachtet man dementsprechend den hier auf mehreren Ebenen skizzierten Kontrast zwischen normativ verordneten administrativen Neuerungen mit dem alltäglichen Verwaltungshandeln, dann wird deutlich, dass der Sinn, der Verlauf und die Richtung solcher Prozesse kaum je mit jener teleologischen Eindeutigkeit und jener emphatischen Effizienzsteigerung in eins fallen, die uns ein modernes Verständnis von Innovation suggeriert. Veränderungsprozesse in vormodernen Bürokratien verliefen nicht geradlinig, sie verliefen nicht widerstandsfrei und sie nahmen nicht notwendigerweise die Richtung hin auf eine die Verwaltungseinheit verbessernde Gestalt. Mithin kennzeichnet sie gerade, dass diese Prozesse mit Blick auf die resultierende Form ergebnisoffen verlaufen und für allerlei Störungen anfällig sind, die außerhalb der Verwaltungseinheit selbst liegen. In funktional nicht voll ausdifferenzierten Gesellschaften ist die Beimengung fremder Handlungslogiken immer eine reale Möglichkeit. Die Heranziehung genuiner Verwaltungsressourcen zu Patronagezwecken ist hier sicherlich nur das offensichtlichste Beispiel. Selbst im lokalen und Mikro-Bereich ist immer damit zu rechnen, dass Erfordernisse des Verwaltungsapparates, die vorgeblich auf seine Effizienz zielen – Tagebücher, Postentausch, Gehälter – mit sozialen Zwecken der Akteure vermengt werden und in ihnen vollends aufgehen. Die Einführung einer der Innovation verdächtigen Technik – sei es eine Schreibtechnik oder eine Form der Professionalisierung von Amtsträgerschaft – ist darum keineswegs gleichbedeutend mit einem Innovationsprozess.Zudem stellt sich die Frage nach der Skalierung von Innovation oder anders formuliert: Ist jede Neuerung, jede Veränderung auch eine Innovation? Um dieses Problem noch deutlicher zu fassen, soll ein letztes Mal die Perspektive gewechselt werden. Statt nach großen Reformen sollen nun kleine Variationen und Veränderung im Bereich administrativer Routinen in der städtischen Verwaltung Londons im 17. und 18. Jahrhundert untersucht werden, um gewissermaßen ex negativo noch einmal das Potenzial, aber auch die methodischen Schwierigkeiten im Umgang mit Innovationen auszuloten.Wandel im Kleinen: von der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit der RoutineAls Beispiel dient ein kleines und auf den ersten Blick eher unwahrscheinliches Phänomen: die sogenannten Wardmote Presentments. Die Wardmote Presentments entstanden im Rahmen der jährlichen Versammlung eines Londoner Stadtviertels (Wards), dem sogenannten Wardmote, auf dem die Repräsentanten und lokalen Ämter eines Wards für das kommende Jahr gewählt wurden und über verschiedene lokale Belange beraten und entschieden wurde.Zu den Wardmotes siehe Charlotte Berry: ›To avoide all envye, malys, grudge and displeasure‹: sociability and social networking at the London wardmote inquest, c. 1470–1540, in: The London Journal 42/3 (2017), S. 201–217.Auf den Wardmotes wurden die im Jahr angefallenen Beschwerden eines Wards (herumliegender Abfall, unordentliche Häuser, Alkoholausschank ohne Lizenz) verlesen. Zusammen mit den neu gewählten Amtsinhabern wurden diese Beschwerden schriftlich dokumentiert. Der Ablauf des Wardmotes war in seinen Grundzügen formal geregelt, wobei vor allem auf den Ablauf der jährlichen Wahl der Amtsträger und der vierjährigen Wahl der Aldermen und Common Council Men sowie auf den Wortlaut der Amtseide ein besonderer Fokus gelegt wurde.Eine detaillierte Anweisung, wie das Wardmote abzuhalten sei, findet sich hier: London Metropolitan Archive (London) [LMA], COL/WD/02/011.Wenig Aufmerksamkeit wurde hingegen der Frage geschenkt, wie die beratenen Informationen und auf die dem Wardmote vollzogene Wahl als Rechtsakt dokumentiert werden sollte. Alle Presentments enthalten ein mehr oder minder festes Set an Informationen: das Datum, die über das Jahr gesammelten Beschwerden, eine Liste lokaler Lizenzhalter und vor allem die Auflistung der gewählten Amtsträger. Zugleich zeigt sich auf der Ebene der schriftlichen Dokumentation eine große Flexibilität und Vielfalt in der Ausgestaltung.Die schriftliche Fixierung der Wardmotes geschah in zweifacher Weise: einerseits in Form von großformatigen einzelnen Bögen, den Wardmote Presentments, die zusammen mit den Presentments der anderen Wards an die Corporation of London gegeben wurden, und andererseits in Minute Books, die im Ward selbst verblieben und über mehrere Jahrzehnte die Ergebnisse des Wardmotes dokumentierten. Die Wardmote Presentments sind über einen langen Zeitraum seriell überliefert und ermöglichen einen einzigartigen Einblick in die Veränderung, Variation und Neuerung von schrift- und dingbezogenen Verwaltungspraktiken.Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Art administrativer Schriftlichkeit unterschiedliche Funktionen besaß. Auf der einen Seite ging es um die Dokumentation und Speicherung von Informationen.Diese Art von Schriftlichkeit wird üblicherweise unter der breiten Kategorie ›pragmatische‹ Schriftlichkeit verhandelt. Der Begriff pragmatische Schriftlichkeit geht auf den Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 (Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter) zurück. Darunter werden jene Bereiche der Schriftlichkeit verstanden, die unmittelbar »zweckhaftem Handeln dienen oder menschliches Tun und Verhalten durch die Bereitstellung von Wissen anleiten wollen«, vgl. hierzu Hagen Keller: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Einführung zum Kolloquium in Münster, 17.–19. Mai 1989, in: Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992, S. 1–7, hier S. 1. Ulla Kypta bemerkt, dass Studien zur pragmatischen Schriftlichkeit zwar die »performative Kraft« von Verschriftlichung konstatieren, dennoch häufig eine Differenz zwischen dem Objekt der Schriftlichkeit und dem Prozess des Verschriftlichens aufmachen. Vgl. Ulla Kypta: Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand, Göttingen 2014, S. 23.Auf der anderen Seite zielte das administrative Schrifttum auf die symbolische Herund Darstellung der im Kern korporativen Verfassung von London, und eng damit verbunden ging es um die schriftliche Dokumentation der Wahlergebnisse, die ihrerseits rechtsbindenden Charakter besaßen.Zur symbolischen Funktion von Verwaltungsschriftgut siehe auch Paul Griffiths: Secrecy and Authority in Late Sixteenth- and Seventeenth-Century London, in: The Historical Journal 40/4 (1997), S. 925–951, bes. S. 933.Wenngleich im Laufe des 18. Jahrhunderts lokale Aufgaben zunehmend durch überlokale städtische Institutionen, wie etwa die Commissioners of Sewers, übernommen wurden, blieb das Selbstverständnis der Stadt im Kern ein dezentrales und korporatives. Die schriftliche Dokumentation der Wardmotes ist somit zugleich auch die permanente symbolische Dokumentation und der schriftliche Vollzug des korporativen Grundcharakters der City of London. Diese Perspektive deckt sich mit jüngeren Ansätzen der Verwaltungsgeschichte, die sich vermehrt für die Funktion von Schreibpraktiken und Formen der Informations- und Wissensspeicherung interessiert.Vgl. Markus Friedrich: Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773, Frankfurt am Main 2011, S. 18, Anm. 21 mit weiterführender Literatur. Einschlägig etwa Gerd Spittler: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 574–604. Vgl. zudem Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009; Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008; Matthias Pohlig: Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg, Köln 2016; Megan Williams: »Zu Notdurfft der Schreiberey.« Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei, in: Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015, S. 355–373.; Megan Williams: Unfolding Diplomatic Paper and Paper Practices in Early Modern Chancellery Archives, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 496–508. Neben der klassischen Verwaltungsgeschichte steht in jüngerer Zeit das Archiv aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive im Fokus. Aus der Fülle an Literatur siehe etwa die umfangreiche Diskussion zum Verhältnis von Archiven, Schrift und Textproduktion in Alexandra Walsham: The Social History of the Archive. Record-Keeping in Early Modern Europe, in: Past & Present 230 (2016), S. 9–48; Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013; Griffiths: Secrecy and Authority.Die Erhebung und Evaluation von Information wird dabei nicht so sehr funktionalistisch als Mittel zur Effizienzsteigerung von Verwaltung begriffen, sondern eben auch als kommunikativer und symbolischer Prozess.Unter Information kann dasjenige verstanden werden, »was an Repräsentationen der Welt in Hinsicht auf eine Aufgabe verfügbar ist.« Diese Definition orientiert sich an der durch Peter Burke eingeführten Unterscheidung zwischen Wissen und Informationen, wonach Informationen »roh, spezifisch, praktisch« sind, während Wissen das »gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte« oder auch »das Gekochte« ist. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 32014, S. 18. Siehe hierzu auch Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich: Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung zum Wissensbegriff, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 11–44, S. 16. Kritisch in Bezug auf eine künstliche Unterscheidung zwischen Information als Substrat und Wissen als »Produkt systematischer Wirklichkeitsaneignung« ist Lars Behrisch: Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 455–474, S. 456.Die zweifache Bestimmung der Wardmote Presentments als Speichermedium und Repräsentationsmedium manifestiert sich an ihrer zumeist aufwendigen Gestaltung. Beim Blick auf die lokalen Minute Books zeigt sich die Herausforderung für den Schreiber, unterschiedliche Informationen auf dem begrenzten Raum der Minute Books einerseits zu dokumentieren und anderseits eine Binnenstruktur und Hierarchie der Seiten zu entwickeln, die die Auffindbarkeit erleichtert und dem repräsentativen Charakter der Wardmote Presentments gerecht wurde. Diese Aufgabe konnte auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert werden. Alle Wards experimentierten über das gesamte 17. und 18. Jahrhundert mit verschiedenen Layouts und grafischen Elementen. So wurde in Farringdon Without, St. Dunstan West 1623 die Seite durch vertikale Trennlinien mit fett geschriebenen Überschriften strukturiert und durch ein eingeklebtes Bild des namensgebenden Patrons St. Dunstan repräsentativ ausgestaltet.1643 wurde auf die Abbildung von St. Dunstan verzichtet, und die vertikalen Trennlinien wurden durch horizontale Linien ergänzt, wodurch sich eine tabellarische Grundstruktur der Seite ergab. Diese tabellarische Struktur wurde in der Folge beibehalten, wobei die Informationen im 18. Jahrhundert zunehmend auf einer Seite gebündelt wurden und nur sparsam mit Verzierungen gearbeitet wurde.LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001, Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct, 1558–1823.Diese Fokussierung auf eine tabellarische Seitenorganisation wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch deutlicher herausgearbeitet, indem die Spalten und Zeilen nun zusätzlich mit roter Tinte unterstrichen wurden. Dieses um 1700 entwickelte Layout wurde mit kleineren Variationen über das gesamte 18. Jahrhundert beibehalten.Völlig anders sah hingegen das Minute Book im Queen Hith Ward aus.LMA, CLC/W/MA/002/MS04829, Queen Hith Ward Wardmote Minute Book, 1667–1746.Im Vergleich zu St. Dunstan West war das Seitenlayout hier schnörkellos auf die Dokumentation von Informationen ausgerichtet, die durch einfache Spiegelstriche voneinander getrennt wurden. Variationen finden sich hier im Bereich der Überschriften, die etwas größer geschrieben wurden, um eine einfache Hierarchisierung und Binnenstruktur der Informationen auf einer Seite zu ermöglichen. Doch ansonsten sind die Minutes sehr schlicht gehalten und weisen keine elaborierten Schmuckelemente auf.Ein drittes Beispiel hingegen verweist auf das kreative Potenzial, das Verwaltungsschriftgut entfalten konnte. Das Portsoken Wardmote Inquest Minute Book ist bevölkert von fantastischen Fabelwesen, kuriosen Gesichtern und kunstfertigen Arabesken.LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, Portsoken Wardmote Inquest Minute Book, 1648–1798.Die räumliche Organisation der Seite zeigt eine klare Schwerpunktsetzung auf der ästhetisch-repräsentativen Funktion der Presentments. Fische, Vögel und Fabelwesen konnten durchaus ein Drittel der Seite einnehmen, während umfangreiche Arabesken hingegen Schrift und Layout zu einer Einheit verbanden. Zudem zeichnet sich das Minute Book durch ein elaboriertes Spiel mit Farbe aus. Einzelne Wörter wurden durch die alternierende Verwendung von blauer, roter und schwarzer Tinte grafisch hervorgehoben; durch die zusätzliche Verwendung von Arabesken wurde das Presentment zu einem ästhetischen Gesamtkunstwerk. Inspirationen für diese kalligrafische Ausgestaltung administrativen Schriftguts konnte der Schreiber aus einem der zahlreichen Schreiblehrbücher des 17. Jahrhundert gewinnen.Etwa Edward Cocker: The Pen’s Triumph: Being a Copy-Cook, London 1659.Hier ging es nicht, oder nicht nur, um die schlichte Speicherung von Information, sondern auch um die Repräsentation von Kunstfertigkeit und um die Betonung der herausgehobenen Stellung der Wardmote Presentments für das Selbstverständnis des Wards.Figure 1Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1623 (Source: Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1558–1823, LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001. Photograph by Franziska Neumann)].Figure 2Portsoken Wardmote Inquest Book 1666 (Source: Portsoken Wardmote Inquest Minute Book 1648–1798, LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, ohne Paginierung. Photograph by Franziska Neumann)]Diese kreative Ausgestaltung von Verwaltungsschriftgut zeigt sich auch auf der Ebene der großformatigen Presentments, die von den Wards an die Stadt gingen. Auch hier zeigt sich über das ganze 17. und 18. Jahrhundert eine große Flexibilität und Kreativität sowohl in Bezug auf das Layout als auch in Bezug auf die repräsentative Ausgestaltung. Von schlicht gestalteten Rubriken, die durch vertikale Linien und ein Item strukturiert wurdenLMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Aldgate, 1669.über einfache unverzierte tabellarische StrukturenLMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Bishopsgate, 1670.bis hin zu ausgreifenden Arabesken und gemalten WappenEtwa LMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Dowgate, 1669, 1671, 1672; Aldergate, 1668, Cripplegate, 1670.findet sich ebenso wie auf der Ebene der Minute Books ein breites Spektrum von Design und Layout. Hinzu kamen unterschiedliche Varianten, mit der Begrenztheit des aus einem großen Bogen bestehenden Presentments umzugehen: Zum Teil wurden hierfür überaus elaborierte Falttechniken genutzt, etwa indem durch das Falten des Bogens kleinere Taschen gebildet wurden, in die zusätzliche Schriftstücke eingefügt wurden und der begrenzte Raum der Presentments dadurch erweitert wurde.Etwa LMA, COL/AD/04/031, Ward Presentments Portsoken, 1735.Bei der vergleichenden Betrachtung der Wardmote Presentments zeigt sich, dass eine große Flexibilität in der Ausgestaltung formalen Verwaltungsschriftgut möglich war und durchaus die Möglichkeit zur kreativen Aneignung und Auslegung bestand. Letztlich blieb es dem einzelnen Schreiber überlassen, ob der Schwerpunkt eher auf die funktionale Ausgestaltung oder die repräsentativ-symbolischen Dimension der Presentments gelegt wurde und wie das Problem der Organisation von Information auf räumlich begrenzten Papiermedien gelöst wurde.Was sagt uns nun dieser kleine Exkurs zu Schreibpraktiken und Dingen über Innovationen im Verwaltungskontext? So faszinierend die Vielgestaltigkeit der Wardmote Presentments auch ist, so würde man diese vermutlich weder im modernen Verständnis zwingend als Innovation bezeichnen noch scheint es sich um das zu handeln, worauf die frühneuzeitliche (negative) Innovationsrhetorik im Kern abzielt. Vielmehr handelt es sich um kleinste Variationen, Veränderungen und Neuerungen, die sich in der Ausgestaltung der Wardmote Presentment Minute Books über einen langen Zeitraum abzeichnen. Und genau in dieser sehr kleinen Skalierung von Neuerung zeigt sich ihr analytisches Potenzial: gerade, weil es sich nicht um bahnbrechende, aus dem Nichts heraus entstehende Neuerungen, die Verwaltung grundlegend veränderten, handelt, sondern um inkrementellen Wandel von Routinen, die Raum und Möglichkeit für kreative Veränderung, Wandel und Innovationen lassen.In diese Richtung zielen die Befunde der Arbeit von Birgit Näther am Beispiel der bayerischen Visitationsverfahren zwischen 1574 und 1774. Dabei geht sie von einem dialogischen Verhältnis zwischen Norm und Routinepraxis aus. Mittelbehörden hätten über Jahre hinweg die Routinen den praktischen Erfordernissen angepasst und en passant neue Verfahrensziele etabliert, was sich in einer veränderten administrativen Schriftlichkeit niedergeschlagen habe. Die Mittelbehörden agierten dabei nach einer Art ›Baukastensystem‹, das bereits etablierte Verfahrenselemente aufgriff und situativ gemäß den sich verändernden Verfahrenszielen weiterentwickelte. Routinen sind also nicht nur in der Lage, Praktiken zu stabilisieren, sondern besitzen auch Veränderungspotenzial. Statt also normative Regel und Routinepraxis gegeneinander auszuspielen, ist vielmehr von einem dialogischen Verhältnis auszugehen. Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen. Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht, in: Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 121–135, bes. S. 97.Es ist bekannt, dass vormoderne Verwaltung in der Praxis in hohem Maße auf Routinen basierten, die flexibel sich verändernden Anforderungen und Rahmenbedingungen angepasst werden konnten. Routinen sind mit Ulla Kypta »selbststrukturierte und strukturierende Prozesse«, die hauptsächlich auf dem »impliziten Wissen der Akteure beruhen und wiederholt werden, ohne darüber zu reflektieren«.Kypta: Autonomie der Routine, S. 12.Administrative Praktiken als Routinen werden daher im Anschluss an die jüngeren Arbeiten zur Praxeologie hier nicht als einmalige Handlung, sondern als ein »typisiertes, routinisiertes und sozial ›verstehbares‹ Bündel von Aktivitäten« verstanden, wozu sowohl körperliches als auch sprachliches Handeln (Doings und Sayings) und auch der Umgang und der Einbezug von Objekten zählt.Theodore Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002, S. 70–73; Marian Füssel: Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 21–33. bes. S. 26. Wichtige Impulse für die Praxeologie kommen von Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301. Einen Einstieg in die Vielfalt praxeologischer Ansätze und ihren Nutzen für die Geschichtswissenschaft liefert Arndt Brendecke: Von Postulaten zu Praktiken. Eine Einführung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 13–20, bes. S. 15; Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015; Lucas Haasis/Constantin Rieske (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015.Es geht bei der Untersuchung von Routinen also nicht um das einzigartige und einmalige Handeln (und auch nicht um die mentalen Intentionen, die ihm anscheinend zugrunde liegen), sondern um Routinen, die auf implizitem und geteiltem Wissen basieren und sich in einem Ensemble aus Körpern und Dingen abspielen.Routinen haben einige grundlegende Implikationen. Auf der einen Seite schaffen sie ein Mindestmaß an Stabilität. Die Clerks der Wards müssen nicht jedes Mal von vorne überlegen, wie sie Informationen in den Minute Books dokumentieren oder welche Art von Büchern auf welche Weise zu führen ist. In ihrer Regelhaftigkeit und Gleichförmigkeit machen Routinen – ebenso wie formale Regeln – gewisse Handlungen wahrscheinlicher als andere und stabilisieren somit Erwartungshaltungen.Vgl. Niklas Luhmann: Lob der Routine, in: Ernst Lukas / Veronika Tacke: Niklas Luhmann: Schriften zur Organisation 1. Die Wirklichkeit der Organisation, Wiesbaden 2018, S. 293–332, wenngleich Luhmann hier vor allem gegen moderne Managementkonzepte argumentiert, die in Routinen eher ein Übel, denn einen funktionalen Bestandteil von Organisationen sehen.Während Formalisierung üblicherweise den Fokus auf das »Explizitmachen sozialer Regeln« legt, die zu einer Stabilisierung von Erwartungshaltungen führt, ist im Falle von Routinen gerade das implizite Wissen entscheidend. Eine Routine allein macht noch keine Formalstruktur, aber auch sie begünstigt Standardisierung und die Ausbildung stabiler Verhaltenserwartungen. Insofern sind Routinen üblicherweise ein möglicher Ausgangspunkt für weiter Formalisierungsschritte – ohne dass diese Entwicklung zwingend wäre.Zugleich sind Routinen, so die zweite Überlegung, dynamisch an sich verändernde Umweltbedingungen anpassbar – gerade weil sie nicht schriftlich fixiert worden sind. Die grundsätzliche Flexibilität in Bezug auf Layout und Design sowie die Kreativität, die einzelne Clerks in der Ausgestaltung der Presentments an den Tag legten, verdeutlichen, dass vormoderne Verwaltungen gerade auf Grund ihrer geringen Formalisierung in der Praxis ein größeres Maß an Potenzial für Veränderung, Wandel und auch Neuerung zuließen, als dies in modernen, formalisierten Verwaltungen der Fall ist.Damit erlauben es die Wardmote Minutes, eine andere Perspektive auf Innovationen in vormodernen Verwaltungen einzunehmen. Statt anachronistisch ex post gewisse Neuerungen in Verwaltungen als Innovation zu bezeichnen, also von konkreten Gegenständen oder Phänomenen auszugehen, rücken institutionelle Rahmungen in den Fokus, die Veränderung und Neuerung überhaupt erst ermöglichen. Im Falle der vormodernen Verwaltung ergibt sich gerade im Vergleich zu modernen formalen Organisationen der paradoxe Befund, dass vormoderne Verwaltungen auf diskursiver Ebene zwar ausgesprochen innovationsfeindlich waren, aber in der administrativen Praxis eine weitaus größere Flexibilität zur Ausgestaltung von Routinen zuließen, als dies in modernen Verwaltungen der Fall ist. Organisationssoziologisch betrachtet sind moderne Verwaltungen ein eher innovationsaverses Umfeld: Einfache Tätigkeitsprofile, sichere Entscheidungsprogramme, definierte Verfahren, mechanische Merkmale von Organisationsstrukturen, hohe Standardisierung, kurz also die Merkmale formaler Organisationen, bringen, so Jerald Hage, »wenig Neues unter der organisatorischen Sonne« hervor.Hage: Innovation von Organisationen, S. 81.Formale Organisationen zielen auf Standardisierung, Stabilisierung und Planungssicherheit ab, und schaffen damit nicht gerade optimale Rahmenbedingungen für Kreativität, Spontanität und technologische oder soziale Neuerungen.Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 41995, S. 38; Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 96; Renate Mayntz: Soziologie der Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 81f.Im Kontrast dazu boten frühneuzeitliche Verwaltungen mit ihrem geringeren Formalisierungsgrad und der flexiblen Anpassungsleistung von Routinen einen institutionellen Rahmen, aus dem durchaus grundlegendere Neuerungen entstehen konnten. Doch um diese zu kontextualisieren, ist es notwendig, sich eben und insbesondere mit jenen kleinen, unscheinbaren Formen des Wandels administrativer Praktiken auseinanderzusetzen.FazitEs sollte deutlich geworden sein, dass der Begriff der Innovation als analytische Kategorie für die historische Untersuchung von Verwaltungen seine Herausforderungen mit sich bringt. Eine Schwierigkeit liegt in der normativen Aufladung des Begriffs und der impliziten Gleichsetzung von Innovationen mit Fortschritt und Effizienz. Grob heruntergebrochen zeigt sich dabei ein gewisses heuristisches Dilemma: In der Beschreibung eines Prozesses wird das Ziel des Prozesses (etwa: Fortschritt) schon mitgedacht und beeinflusst darum auch, welche Prozesse überhaupt in Betracht geraten. Wie viel Veränderung und Neuerung sind also notwendig, um als Innovation kategorisiert zu werden? Dieses Problem gilt, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, sowohl für die Vormoderne wie auch für die Moderne, da der Begriff von seiner jeweiligen normativen Aufladung kaum entkoppelt werden kann und folglich keine neutrale Beschreibungskategorie darstellt.Godin: Innovation Contested.Zugleich verschärft sich das Problem jedoch bei der unkritischen Übertragung auf die Frühe Neuzeit. Die Fokussierung auf vereinzelte »Innovationen« ohne Kontextualisierung oder die Gleichsetzung von Innovationsdiskursen mit der Praxis birgt immer auch die Gefahr in sich, teleologische Fortschrittsnarrative zu bedienen, die in der jüngeren Forschung zur Verwaltungsgeschichte zu Recht problematisiert wurden. Entsprechend zentral ist die Kontextualisierung und die differenzierte Betrachtung von Innovations-Diskursen einerseits und Fragen nach administrativen Praktiken und institutionellen Rahmenbedingungen andererseits.Zugleich müssen Innovationen in historisch je spezifische zeitgenössische Zeit- und Zukunftskonzeptionen eingebettet werden. Innovationen sind im modernen Verständnis eben nicht einfach nur synonym mit Neuerungen, sondern zielen auf eine positive Konzeption der Zukunft als plan- und gestaltbaren Raum ab. Diese Vorstellung ist, dies sollte deutlich geworden sein, der Frühen Neuzeit weitgehend fremd. Zugleich unterlagen natürlich auch frühneuzeitliche Verwaltungen Wandel und Neuerung. Und hier liegt unseres Erachtens auch die Stärke des Begriffs der Innovation. Dieser kann als Sonde dienen, um sich unterschiedlichen Konzeptionen von Veränderung und Zeitlichkeit zu nähern. In der hier vorgeschlagenen kritischen Wendung des Begriffes erlaubt solch ein Zugriff auch die kritische Hinterfragung jener normativen Implikationen, die dem Innovationsbegriff zugrunde liegen.Vor diesem Hintergrund hat die empirische Auseinandersetzung mit Verwaltung und Innovationen im England des 17. und 18. Jahrhundert ein interessantes Paradox freigelegt: Wenngleich wir es diskursiv mit einer äußerst innovationaversen Gesellschaft zu tun haben, sind doch die institutionellen Rahmenbedingungen in gewisser Hinsicht günstiger für Veränderung und Neuerungen als in modernen administrativen Kontexten. Es ist davon auszugehen, dass frühneuzeitliche Verwaltungen mit ihrem geringeren Maß an Formalisierung, Standardisierung und formaler Regelung Akteuren im Einzelfall mehr individuellen Gestaltungsraum etwa in Bezug auf Verfahrensabläufe und Schreibpraktiken zugestanden. Verwaltungen, die im hohen Maße auf nicht schriftlich fixierten Routinen basieren, so könnte man zugespitzt behaupten, begünstigen die stillschweigende Veränderung und Neuerung. Damit bietet der Blick auf Innovationen in konzeptioneller Hinsicht neben einem vertiefenden Verständnis von Zeitlichkeit und Wandel eben auch die Chance, nach Möglichkeitsräumen und Bedingungen von Innovationen zu fragen. Und hierin liegt unseres Erachtens die große Stärke des Begriffs der Innovation als analytische Kategorie: Statt Innovationen als überzeitliche Größen zu konzipieren und zugleich institutionell und zeitlich zu dekontextualisieren, plädieren wir dafür, Innovationen als Sonde zu nutzen, um das historisch je variable Zusammenspiel von Wandel, Zeitlichkeit und institutionellen Rahmungen freizulegen.

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Published: Dec 1, 2021

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