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Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven

Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven EinleitungVerwaltungen gelten gemeinhin als statisch und resistent gegenüber Neuerungen. Dieser Befund begleitet moderne Verwaltungen seit der Bürokratiekritik des frühen 19. Jahrhunderts. Und doch haben sich administrative Organisationen seither immer wieder gewandelt. Dies gilt für ihre räumliche Anordnung ebenso wie für ihre technischen Werkzeuge und kommunikativen Mittel – sei es die Einführung des Bureaus oder des zeitgenössischen Bürgerbüros, der stählernen Tintenfeder oder des Computers, des vervielfältigbaren Vordrucks oder des digitalen Amts.Vgl. Delphine Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. Wie eine Revolution des Bürolebens unsere Gesellschaft verändert hat, übers. v. Stefan Lorenzer, Konstanz 2019; David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2018. Siehe auch die Projekte im von Gugerli geleiteten SNF-Projekt »Aushandlungszonen. Computer und Schweizerische Bundesverwaltung, 1960–2000«, online unter: https://p3.snf.ch/project-188795 (12. 09. 2022). Das Narrativ der Innovationsfeindlichkeit der Bürokratie verstellt den Blick für die Vielschichtigkeit derartiger Wandlungsprozesse. Ausgehend von dieser Beobachtung versucht der vorliegende Band auszuloten, ob Innovation als eine tragfähige Analyseperspektive in der Verwaltungsgeschichte dienen kann und für die Erforschung von Wandel in Bürokratien geeignet ist.Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Semantik der Neuerung grundlegend gewandelt. In Reinhart Kosellecks »Geschichtliche Grundbegriffe« gibt es keinen Eintrag zum Begriff Innovation. Er spielte im Untersuchungszeitraum Kosellecks, dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, noch keine Rolle. Gleichermaßen war der Terminus auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft der 1970er-Jahre, als die ersten Bände der »Geschichtlichen Grundbegriffe« erschienen, noch nicht weit verbreitet. Sehr wohl enthalten die »Geschichtlichen Grundbegriffe« jedoch einen Eintrag zu »Reform, Reformation«;Vgl. Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 313–361. Für eine Begriffsgeschichte von ›Innovation‹ siehe: Beno Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation Over the Centuries, London 2015. ein Begriff, der in den 1970er-Jahren (erneut) eine enorme Konjunktur erlebte.Niklas Luhmann: Reform des öffentlichen Dienstes. Zum Problem ihrer Probleme [1971], in: Veronika Tacke / Ernst Lukas (Hg.): Schriften zur Organisation, Bd. 4: Reform und Beratung, Wiesbaden 2020, S. 199–271. Seither ist jedoch die Rede von Innovation allgegenwärtig geworden. Dabei hat dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten in der Politik und im Alltag eine normative Aufladung erfahren, die potenziell alle Gesellschaftsbereiche unter Druck setzt, Neuerungen vorzunehmen oder Änderungen als Innovationen zu bezeichnen. Diesem gesellschaftspolitischen Innovationsverständnis konnte sich auch die Verwaltungswissenschaft nicht entziehen. Sie hat sich in den letzten Jahren vor allem damit befasst, wie administrative Organisationen innovationsfreundlicher werden können.Als analytische Kategorie scheint Innovation für die Verwaltungsgeschichte auf den ersten Blick ungeeignet zu sein. Daran mag es liegen, dass die jüngst stark zunehmende Historiografie zu technischen Neuerungen in Verwaltungen den Begriff entweder nur oberflächlich verwendet oder ganz vermeidet.Martin Campbell-Kelly: Information Technology and Organizational Change in the British Census, 1801–1911, in: Information Systems Research 7/1 (1996), 22–36; Jon Agar: The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer, Cambridge 2003; Gardey: Schreiben; David Arnold: Everyday Technology. Machines and the Making of India’s Modernity, Chicago 2013; Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Thomas Mullaney: The Chinese Typewriter. A History, Cambridge 2017. Umgekehrt werden historische Studien in der Innovationsforschung ebenfalls kaum oder nicht rezipiert, wie das »Kompendium Innovationsforschung« augenfällig macht. In der Riege der disziplinären Perspektiven auf Innovation, die Birgit Blättel-Mink und Raphael Menez darin versammeln, fehlt die Geschichtswissenschaft.Birgit Blättel-Mink / Raphael Menez: Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 46. Für die disziplinären Perspektiven auf Innovation vgl. S. 35–48. Eine Ausnahme stellt lediglich die Wissenschafts- und Technikgeschichte dar, die sich bereits seit Längerem mit den Entstehungsbedingungen von ›Neuem‹ befasst.Siehe u. a.: Dominique Pestre: Thirty Years of Science Studies. Knowledge, Society and the Political, in: History and Technology 20 (2004), S. 351–369; Reinhold Bauer: Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel, Frankfurt am Main 2006; Helmuth Trischler / Kilian J. L. Steiner: Innovationsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Wissenschaftlich konstruierte Nutzerbilder in der Automobilindustrie seit 1950, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 455–488.In den letzten Jahren ist allerdings ein gestiegenes Interesse am Begriff ›Innovation‹ in der Geschichtswissenschaft zu beobachten, sofern seine Erwähnung in Ausschreibungen auf dem Fachportal H-Soz-Kult als Indiz hierfür gewertet werden kann.Vgl. etwa den Tagungsbericht zu der im Jahr 2021 stattgefundenen Konferenz »Die Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor für religiöse und kulturelle Innovation im 18. Jahrhundert«, online unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9347 (01. 06. 2022), die Ankündigung der Konferenz »Mechanismen des Innovativen im klösterlichen Leben des hohen Mittelalters« im Jahr 2022, online unter: https://www.hsozkult.de/event/id/event-118096 (01. 06. 2022) oder den Call for Papers für das 2023 erscheinende Themenheft »Technik – Innovation – Wandel« der Zeitschrift »Didactica Historica«, online unter: https://www.hsozkult.de/event/id/event-115837 (01. 06. 2022). Ebenso zeigte der hohe Rücklauf auf den Call for Papers des vorliegenden Bandes von »Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte« das Interesse an dem Thema. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Band das analytische Potenzial des Begriffs für die Verwaltungsgeschichte aufzeigen. Bei genauerer Betrachtung wirft er zahlreiche Fragen auf, die zentrale Dimensionen des Wandels in administrativen Organisationen berühren: Was sind die Bewertungsmaßstäbe des ›Neuen‹ und wie verhält sich das ›Neue‹ zum Etablierten? Wer sind die Akteure und Akteurinnen von Veränderungen, welche Rolle spielen Artefakte als Triebfedern eines Wandels und wie verändern sich die administrativen Praktiken?Dafür ist es gewinnbringend, die Geschichtswissenschaft mit anderen Disziplinen in Dialog zu setzen. Die Wirtschaftswissenschaften, die Soziologie und nicht zuletzt die Technik- und Wissenschaftsforschung befassen sich bereits seit Jahrzehnten mit der Entstehung und Durchsetzung von Innovationen. Die Verwaltungswissenschaften rezipieren jedoch vor allem sozialwissenschaftliche Zugänge. Daher stellen wir im ersten Teil zunächst wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Konzepte von Innovation vor. Anschließend diskutieren wir das relational-referentielle Innovationskonzept des Techniksoziologen Werner Rammert. Soziologische Ansätze liefern aufgrund ihres theoretischen Fokus interessante analytische Einblicke in Innovationen als soziale Phänomene, allerdings bieten historiografische Methoden spezifische neue Perspektiven auf Innovationsprozesse, die sich von den stark an gegenwärtigen Debatten orientierten Sozialwissenschaften unterscheiden. Konzeptionelle Anregungen aus der Technik- und Wissenschaftsgeschichte aufgreifend entwickeln wir im zweiten Teil der Einleitung drei für die historische Bürokratieforschung zentrale Analyseebenen des Innovationsbegriffs. Die Beiträge des vorliegenden Bandes vertiefen diese Perspektiven.Sozialwissenschaftliche Grundlagen der Innovationsforschung in der VerwaltungswissenschaftWie die soziologische Forschung feststellte, ist das Sprechen über Innovation inflationär und allgegenwärtig. Darüber hinaus diagnostizierte sie auch einen Wandel hin zu einer Innovationsgesellschaft.Vgl. Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016. Zur Feststellung, dass sich Innovationen zur dominanten treibenden Kraft entwickeln vgl. insbesondere Werner Rammert et al.: Die Ausweitung der Innovationszone, in: Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016, S. 3–13. Zur grundsätzlichen Kritik an der zeitdiagnostischen Tendenz der Soziologie vgl. Fran Osrecki: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. Von der Vormoderne unterscheide sich die Gegenwart durch eine Institutionalisierung und Professionalisierung innovatorischen Handelns. So hätten sich gesellschaftliche Felder herausgebildet, »die darauf spezialisiert sind, systematisch, betriebsförmig und nach wissenschaftlichen Methoden verfahrend Innovationen hervorzubringen und sie in weitere gesellschaftliche Kreise diffundieren zu lassen«. Der Naturwissenschaft, deren Erkenntnisinteresse auf die Bildung von neuem Wissen fokussiert, sei dabei eine tragende Rolle zugekommen, weil sie Triebfeder technischer Forschung und Entwicklung war.Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 60–61.Zugleich ist ein allgemeines und kollektives Interesse an Innovation zu beobachten oder wie Jens Aderhold konstatiert: »Neuerungen sind in Mode.«Jens Aderhold: Probleme mit der Unscheinbarkeit sozialer Innovationen in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 109–126, hier S. 109. Diese Entwicklung sei zudem eng mit der Etablierung moderner Massenmedien verbunden. Sie würden sich in ihrer Aufmerksamkeitsökonomie der Präferenz der Gesellschaft für Neuerungen bedienen und diese dadurch wiederum stärken. Dabei würden Innovationen nicht nur verkürzt dargestellt, sondern die gesellschaftliche Aufmerksamkeit insbesondere auf technische Innovationen gelenkt,Vgl. Aderhold: Probleme, S. 110–111. während soziale Innovationen kaum Beachtung fänden.Vgl. Aderhold: Probleme, S. 109. Den Grund für diese Technikzentrierung und Ökonomisierung des Phänomens Innovation sieht Aderhold in der Vorstellung, dass die nationale Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb durch technische Innovationen gestärkt werden müsse.Vgl. Aderhold: Probleme, S. 112. Über diese Feststellung hinausgehend konstatiert Hartmut Hirsch-Kreinsen, eine »Hightech-Obsession« in der Gesellschaft,Vgl. Hartmut Hirsch-Kreinsen: Die Hightech-Obsession der Innovationspolitik, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 71–84, hier S. 72. der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im »Zeitalter der Globalisierung und der sich verschärfenden Innovationskonkurrenz das hiesige [europäische] Wohlstandsniveau allein über die forcierte Entwicklung von Technologien höchster und besonderer Qualität auf Dauer halten lässt.«Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 71. Dabei stellt er fest, dass der Zusammenhang von Spitzentechnologie und wirtschaftlicher Prosperität »bestenfalls den Charakter einer Hypothese habe« und »Innovationen in den wenigsten Fällen von hohen FuE-Aufwänden und Hightech-Entwicklungen getrieben werden.« Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 72. Für die Gründe der Fokussierung auf technische Innovationen vgl. Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 81–82.Diese Auffassung von Innovation prägt auch den sozialwissenschaftlich orientierten Strang der Verwaltungsforschung. In der anglo-amerikanischen Literatur lässt sich die Auseinandersetzung mit der (vermeintlich mangelnden) Innovativität der öffentlichen Verwaltung bis auf Victor Thompsons Aufsatz »Bureaucracy and Innovation« von 1965 zurückverfolgen. Darin postulierte er erstens, dass Organisationen innovativ sein müssen, um sich neuen Herausforderungen anzupassen. Zweitens hielt er fest, dass die zwei zentralen Eigenschaften des Idealtyps moderner Verwaltungen nach Max Weber, hierarchische Strukturen und formalisierte Routinen, Innovationen hemmen.Victor A. Thompson: Bureaucracy and Innovation, in: Administrative Science Quarterly 10/1 (1965), S. 1–20. In der deutschsprachigen Verwaltungswissenschaft erlebte der Begriff Innovation ab den 1980er-Jahren eine Konjunktur. Er wurde darin zum einen auf die Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien bezogen.Renate Mayntz: Informations- und Kommunikationstechnologien in der öffentlichen Verwaltung, Bd. 1: Anwendungsstand und Ansatzpunkte für informationstechnische Innovationen, Bonn 1983; Wolfgang Döhl: Akzeptanz innovativer Technologien in Büro und Verwaltung. Grundlagen, Analyse und Gestaltung, Göttingen 1983. Zum anderen drehten sich damalige Diskussionen bereits darum, wie innovationsförderliche Rahmenbedingungen in der Verwaltung hergestellt werden könnten.Norbert G. Linder: Organisationsentwicklung und Vorschlagswesen in der öffentlichen Verwaltung. Darstellung, Kritik und Ansätze einer Integration von Innovationsinstrumenten, Frankfurt am Main 1983.Zwei grundlegende Prämissen prägen diese verwaltungswissenschaftliche Literatur zu Innovation: Erstens geht sie von einem Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und Innovationen aus. Mangelnder Wettbewerbsdruck wäre etwa ein Faktor, warum die öffentliche Verwaltung weniger innovativ sei als kommerzielle Unternehmen.Ralf Daum: Public Innovation. Stand und Perspektiven des Innovationsmanagements im öffentlichen Sektor, in: Verwaltung und Management 18/6 (2012), S. 320–323, hier S. 320. Betriebswirtschaftliche Prämissen und unternehmerisches Handeln in der Verwaltung zu verankern, war daher ein Ziel des New Public Management-Ansatzes, der ab den 1990er-Jahren in der öffentlichen Verwaltung verschiedener europäischer Staaten durchgesetzt werden sollte.Lars Holtkamp: Verwaltungsreformen. Problemorientierte Einführung in die Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden 2012, S. 205–211. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass eine innovative Verwaltung die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinden, Regionen und des Staates erhöhe.Norbert Thom / Adrian Ritz: Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 42008, S. 123–124. Zweitens sieht sie in Innovationen Lösungen für neue Herausforderungen, die sich aus technologischen und/oder gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben.Heinrich Reinermann (Hg.): Öffentliche Verwaltung und Informationstechnik. Neue Möglichkeiten, neue Probleme, neue Perspektiven, Fachtagung, Speyer, 26.–28. September 1984, Berlin 1985; Hermann Hill: Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, in: Hermann Hill (Hg.): Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, Baden-Baden 2021, S. 9–22; Klaus König: Moderne öffentliche Verwaltung. Studium der Verwaltungswissenschaft, Berlin 2008, S. 657–766. Neuerungen dienen in dieser Perspektive dazu, die Kluft zwischen gesellschaftlichem Wandel und Verwaltungshandeln zu schließen. Dieses spezifische Innovationsverständnis entlang (betriebs-)wirtschaftlicher Maßstäbe und zeitgenössischer Problemdiagnosen resultiert daraus, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit die Innovationsforschung prägten und daher auch in der Verwaltungswissenschaft intensiv rezipiert wurden. Daher stellen wir im Folgenden zentrale Erkenntnisse, aber auch Probleme der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung vor.Die Dominanz ökonomisch-technischer AnsätzeDer Fokus auf (technischen) Innovationen als ökonomischer Wettbewerbsvorteil ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. Allerdings stand schon am Beginn der Innovationsforschung die Wirtschaftswissenschaft. Joseph Schumpeter entwickelte in seiner Monografie »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« erstmals ein Konzept von Innovation.Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1911. Darunter verstand er technische Neuerungen im weitesten Sinne, nicht nur neue oder verbesserte Produkte, sondern ebenso die Einführung neuer Produktionsmethoden und -prozesse oder die Erschließung neuer Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Seine Theorie sah ein lineares Phasenmodell vor, beginnend mit einer Erfindung, die erst durch die erfolgreiche Implementierung in den Wirtschaftskreislauf zu einer Innovation werde und anschließend einen Diffusionsprozess in Form der Nachahmung durch weitere Akteure erfahre.Zur theoretischen Konzeption von Schumpeter vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 67–78 und Leyla Dogruel: Eine kommunikationswissenschaftliche Konzeption von Medieninnovationen. Begriffsverständnis und theoretische Zugänge, Wiesbaden 2013, S. 141–149.Schumpeters Modell gilt als Klassiker der ökonomischen Innovationsforschung. Allerdings wurde in der späteren Rezeption Schumpeters weit gefasstes Verständnis von Innovationen als »neue Kombinationen« von Bestehendem stark verengt: So wurden und werden Innovationen implizit und explizit zumeist mit technischen Erfindungen gleichgesetzt.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 142. Nicht nur war Schumpeters Verständnis von Innovationen sehr breit, er sah Innovationen auch außerhalb der wirtschaftlichen Sphäre als wirkmächtige und prägende Kraft der Gesellschaft an.Vgl. Jürgen Howaldt / Michael Schwarz: Soziale Innovation – Konzepte, Forschungsfelder und -perspektiven, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 87–108, hier S. 96. In seiner Sicht war die Wirtschaft »nicht das alles Andere determinierende Primat« wie auch Innovationen auf dem Gebiet des sozialen Lebens eigenen Logiken folgen würden. Das zentrale Kapitel für dieses Verständnis von Innovationen in allen Lebensbereichen, »Das Gesamtbild der Volkswirtschaft«, wurde in den Nachdrucken des Werkes bezeichnenderweise zumeist weggelassen.Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 96, Fußnote 12. Das Kapitel ist im folgenden Nachdruck enthalten: Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006.Gegen Ende der 1960er-Jahre konstituierte sich die Innovationsforschung als eigenständiges Forschungsfeld, wobei es mit der Einrichtung der Science Policy Research Unit (SPRU) an der University of Sussex zur ersten Institutionalisierung kam. Ihr Ziel war es, Innovationen im wirtschaftlichen Handeln zu untersuchen.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 137. In den 1970er-Jahren erlebte die Innovationsforschung eine erste Konjunktur in Deutschland, in deren Verlauf es zur Engführung von Schumpeters Konzept auf technische Innovation kam und die Bedeutung von Prozessen und Organisationen weitgehend unberücksichtigt blieb. Diese erste Konjunktur der Innovationsforschung fand auch in der Geschichtswissenschaft ihren Niederschlag, etwa indem die Entstehung von technischen Neuerungen und ihre Auswirkungen während der Industrialisierung untersucht wurden.Vgl. Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 458.In den folgenden Jahrzehnten wurden Innovationen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit zunehmend zum Forschungsobjekt anderer Disziplinen, insbesondere der Soziologie, aber auch der Psychologie und der Kognitionswissenschaft.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 138. Dabei ist festzustellen, dass sich die Innovationstheorien ab den späten 1970er-Jahren von einer individualistischen Perspektive, wie sie etwa die zentrale Rolle des Unternehmers bei Schumpeter darstellt, hin zu einer Netzwerk- bzw. Systemperspektive entwickelten.Vgl. Birgit Blättel-Mink: Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 26 (2019), S. 53–65. Diese Neuausrichtung fand auch in der Verwaltungswissenschaft ihren Niederschlag, wo nun verstärkt der Zusammenhang zwischen ›Verwaltungskultur‹, Personalführung und Innovativität in den Mittelpunkt rückte.Michaela Frey: Hergebrachte Verwaltungskultur und Neues Steuerungsmodell. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Verwaltung, Organisation, Personal 18/1 (1996), S. 32–37; Richard Beckhard: Die gesunde Organisation. Ein Profil, in: Frances Hesselbein / Marshall Goldsmith / Richard Beckhard (Hg.): Organisation der Zukunft. Neue Orientierung für Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1998, S. 342–345; Thom / Ritz, Public Management, S. 39–52. Jedoch blieb die Dominanz der ökonomischen Perspektive weitgehend bestehen: Die Prämisse eines Wettbewerbsvorteils und der Zweck, den jeweils eigenen Wirtschafts- und Forschungsstandort für die Zukunft zu stärken, prägten Konzepte und Zielvorstellungen der Innovationsforschung. In der Politik- und Verwaltungswissenschaft lag der Fokus darauf, die politischen und bürokratischen Parameter zu identifizieren, die besonders innovationsförderliche Strukturen versprechen. Damit wird der Innovationsprozess Gegenstand von politischem Gestaltungswillen.Vgl. etwa Johannes Gadner / Gerhard Reitschuler: Die Gestaltung der Zukunft. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Dimensionen von Innovation, Wien 2015; für die Innovationssteuerung in der Verwaltung vgl. Norbert Thom / Adrian Ritz (Hg.): Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 52017 und Schauer Reinbert / Norber Thom / Dennis Hilgers (Hg.): Innovative Verwaltungen. Innovationsmanagement als Instrument von Verwaltungsreformen. Internationales Forschungscolloquium »Public Management« (PUMA-Forschungscolloquium), Johannes-Kepler-Universität Linz, eine Dokumentation, Linz 2011. Damit ist auch die Vorstellung verbunden, dass Innovationen plan- und steuerbar wären oder zumindest ihre Rahmenbedingungen.Das soziologische UnbehagenAls um die Wende zum 21. Jahrhundert die soziologische Forschung das Thema ›Innovation‹ systematisch aufgriff, verfolgte sie damit das Ziel, eine alternative Sichtweise auf Innovation zu etablieren: Technische und ökonomische Aspekte sollten nicht mehr allein bestimmend sein. Die Vorläufer der soziologischen Beschäftigung mit dem Thema ›Innovation‹ sind jedoch bereits älter. 1923 veröffentlichte etwa William F. Ogburn seine Studie »Social Change«, in der er die Theorie aufstellte, dass soziale Innovationen aus einem »cultural lag« resultieren würden.William F. Ogburn: Social Change. With Respect to Culture and Original Nature, London 1923. Darunter verstand er die Kluft, die daraus erwachse, dass die materielle Kultur (technologische Neuerungen) sich rascher ändere als die immaterielle Kultur (soziale Neuerungen). Soziale Innovationen seien Lösungen der dadurch entstehenden Probleme, würden sozialen Wandel vorantreiben und zur Verbesserung der Lebensbedingungen beitragen.Vgl. Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 55. Auch Robert K. Merton sah im Auseinandertreten kulturell wünschenswerter Ziele und sozial anerkannter Mittel, um sie zu erreichen, einen Faktor für Innovativität.Robert K. Merton: Social Structure and Anomie, in: American Sociological Review 3/5 (1938), S. 672–682, hier S. 672–673.Im Kontext von modernisierungstheoretischen Konzeptionen des sozialen Wandels griff die deutsche Soziologie in den 1980er-Jahren die Überlegungen von Ogburn wieder auf.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Mit seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz »Über soziale Innovationen« (1989) legte Wolfgang Zapf eine eigenständige soziologische Konzeption von sozialen Innovationen vor.Wolfgang Zapf: Über soziale Innovationen, in: Soziale Welt 40/1 (1989), S. 170–183. Er betonte den rekursiven Zusammenhang zwischen technischer und gesellschaftlicher Entwicklung und sah in sozialen Innovationen nicht nur die Folgen, sondern auch die Vorbedingungen und Begleitumstände von technischen Innovationen.Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 123; Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper Nr. P 00-519, Berlin 2000, S. 38. Unter sozialen Innovationen verstand er neue Handlungsmuster und -regeln, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Seine Konzeption war wie jene von Ogburn implizit von »einem Glauben an ein geschichtliches Telos« geprägt. Dieses sei, wie Holger Braun-Thürmann und René John feststellten, schon damals ein »anachronistisch wirkendes Fortschrittstelos« gewesen.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Zwar gelang es Zapf nicht, das Thema dauerhaft in der deutschsprachigen soziologischen Forschung zu verankern,Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 54; Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 97. der normative Zugang zu Innovationen prägte jedoch auch den folgenden Versuch, soziale Innovationen zu fassen.Katrin Gillwald nahm Zapfs Bemühungen um eine eigenständige Konzeption von sozialen Innovationen an der Jahrtausendwende wieder auf.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. Sie machte sich eine Bestandsaufnahme bestehender Konzeptionen und eine Klassifizierung von sozialen Innovationen zur Aufgabe,Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation. Für eine andere Systematisierung sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung vgl. etwa Holger Braun-Thürmann: Innovation, Bielefeld 2005. Er plädiert dafür, »technologisch-ökonomische Innovationen als gesellschaftliche zu rekonstruieren und gesellschaftliche in ihren technologischen Aspekten zu betrachten.« Braun-Thürmann: Innovation, S. 13 die sie wie Zapf als Triebfeder des gesellschaftlichen Wandels ansah.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 57. Gillwald betonte vor allem die Gemeinsamkeiten von technischen und sozialen Innovationen, die »Ergebnisse menschlichen Gestaltungswillens« seien, wobei »technische Innovationen Mittel und soziale Innovationen Akte gesellschaftlichen Wandels [sind]«.Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 36. In Abgrenzung zu Zapf sprach sie sich explizit für eine normative Deutung von sozialen Innovationen aus.So kritisierte Gillwald, dass auch Neuerungen mit negativen Effekten als Innovationen bezeichnet werden, wie dies etwa von Zapf im Falle des Ku-Klux-Klans gemacht wurde. In ihrer Konzeption von sozialen Innovationen folgt sie einem modernisierungstheoretischen Ansatz, weshalb sie diese wertneutrale Position für nicht akzeptabel hält. Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 17–18.Eine normative Aufladung des Innovationsbegriffs trifft jedoch nicht allein auf die Soziologie zu. So stellten Blättel-Mink und Menez in ihrem Kompendium fest, dass auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Innovation sehr häufig mit Fortschritt verknüpft wird.Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34. Diese normative Aufladung prägt auch die Verwaltungswissenschaft: Innovativität wird primär als Kapazität verstanden, Probleme zu lösen. Daher ist die Verwaltungswissenschaft bestrebt, Methoden zu entwickeln, um einerseits Innovativität und andererseits ihre (positiven) Wirkungen zu messen. So schufen etwa Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden ein Innovationsbarometer. Es soll sowohl die Innovativität des öffentlichen Sektors als auch den Wert der Neuerungen anhand ihrer Qualität und Effizienz sowie der Einbeziehung der Bürger und Zufriedenheit der Beschäftigten erfassen.Ole Bech Lykkebo et al: Measuring New Nordic Solutions, Innovation Barometer for the Public Sector, Denmark 2019. Im Gegensatz dazu sind jüngere soziologische Arbeiten bemüht, sich von einem normativen Verständnis von Innovation zu lösen. So stellten etwa Jürgen Howaldt und Michael Schwarz fest, dass Innovationen nicht per se gut oder sozial erwünscht, wie auch ihre Wirkung und ihr Nutzen je nach Standpunkt anders zu beurteilen sind.Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 90–91. Zu ihrer Konzeption sozialer Innovationen vgl. Jürgen Howald / Michael Schwarz: »Soziale Innovation« im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts, Bielefeld 2010. Gegen eine normative Aufladung und ein geschichtliches Telos sprechen sich ebenso Braun-Thürmann / John (Innovation, S. 63) aus.Betrachtet man die soziologischen Arbeiten zu Innovation, fällt auf, dass es kein einheitliches Begriffsverständnis oder Konzept gib,Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. jedoch sind Gemeinsamkeiten deutlich zu erkennen. Innovationen sind Variationen bestehender Routinen, die dann zu Innovationen werden, wenn sie sich durch Aneignung und Nachahmung stabilisieren und in bestehende Routinen aufgenommen werden. Die Einzelheiten dieses Prozesses unterscheiden sich abhängig von der theoretischen Ausrichtung, jedoch teilen die Zugriffe die Position, dass der gesellschaftliche Wandel von sozialen Innovationen angetrieben wird, die folglich ein Teil des Wandels sind. Damit zusammenhängend ist den soziologischen Ansätzen gemein, dass sie mehrheitlich nicht auf die in ökonomisch-technischen Ansätzen übliche Unterscheidung des Ausmaßes der Neuartigkeit von Innovationen rekurrieren, also keine Unterscheidung zwischen Basis- und Verbesserungsinnovation, oder zwischen radikaler Innovation, im Sinne einer absoluten Neuerung, und inkrementeller Innovation, im Sinne einer kontinuierlichen und schrittweisen Verbesserung, machen.Eine Ausnahme stellt Aderhold dar, der im Sinne des Strukturfunktionalismus dafür plädiert, nur bei Basisinnovationen, »die die Gesamtgesellschaft, ihre Teilsysteme, Organisationen oder Institutionen auf neue, nachhaltige und letztlich nichtbeabsichtigte Weise verändern«, von Innovationen zu sprechen. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 118. Das Hintanstellen dieser Frage nach dem Ausmaß der Neuartigkeit ist nicht verwunderlich, da im soziologischen Verständnis erstens Neues nur aus dem Bestehenden entstehen kann. Zweitens kann sich Neues nur dann als Innovation durchsetzen, wenn es anschlussfähig an das Bestehende ist: Absolute Neuheiten erweisen sich daher bei genauer Betrachtung immer als eine Illusion.Das relational-referentielle InnovationskonzeptDas wohl derzeit analytisch ausdifferenzierteste Konzept von sozialen Innovationen legte Werner Rammert vor. Seiner Ansicht nach reicht das enge Begriffsverständnis der ökonomischen Innovation nicht aus, um die vielfältigen Innovationen der Gesellschaft analytisch zu fassen.Vgl. Werner Rammert: Die Innovationen der Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 21–51, hier S. 24. So würden sich scheinbar rein technische Innovationen bei genauer Betrachtung selten als solche erweisen, wie sich auch zeigt, dass sie oft in Kombinationen auftreten.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 26 und 28. Um den Blick für die verschiedenen Aspekte von Innovationsprozessen zu schärfen, schlägt er ein Innovationsmodell vor, das zwischen Relationen und Referenzen unterscheidet. Dabei beziehen sich die Relationen auf jene Aspekte, die eine Innovation ausmachen, während sich die Referenzen auf jenen Bereich richten, in dem eine Innovation wirkmächtig ist, das heißt, auf den hin die Innovation ausgewählt, gefestigt und sichtbar wird. Rammert unterscheidet demnach zwischen verschiedenen Arten von Innovationen der Gesellschaft (technische, ökonomische, soziale, kulturelle etc.), wobei seinem Modell ein handlungsund evolutionstheoretisches Gesellschaftsverständnis zugrunde liegt.Zur analytischen Durchdringung des Phänomens wird im ersten Schritt nach den Relationen gefragt. Rammert schlägt vor, dabei zwischen einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension analytisch zu unterscheiden. Während die zeitliche Dimension auf den Gegensatz von Alt und Neu fokussiert, fragt die sachliche Dimension, ob eine Variation von etwas Altem, die »unabdingbare Voraussetzung für die Genese des Neuen«,Rammert: Innovationen, S. 32. vorliegt. Aus der Selektion und Stabilisierung der Variation entsteht das Neue aber erst ihre Durchsetzung macht sie zu einer Innovation.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 29–32, für den Zusammenhang von zeitlicher und sachlicher Dimension vor allem S. 32. Wie aus einer Neuerung eine Innovation wird, untersucht die soziale Dimension. Dazu unterscheidet Rammert wiederum drei Ebenen: eine semantische, pragmatische und grammatische Ebene. Mit ihnen werden die Diskurse, Praktiken und Regeln von Neuerungen untersucht, um festzustellen, ob es sich um eine Innovation handelt.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 32–34.Die semantische Ebene der sozialen Dimension bezieht sich auf den kommunikativen Konstruktionscharakter von Innovationen. Sie untersucht, ob eine Variation als Neu wahrgenommen und als solche kommuniziert wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 34. Werden auf der semantischen Ebene Sinnstiftungen und Diskurse betrachtet, richtet sich der Blick auf der pragmatischen Ebene auf das Handeln. Hier wird analysiert, ob eine Neuerung sich erfolgreich durchsetzt, indem sie nachgeahmt, angeeignet und reproduziert, kurzum selektiert wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 36–37. Auf der grammatischen Ebene wird schlussendlich danach gefragt, ob die Neuerung in den bestehenden institutionellen Rahmen aufgenommen wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 37. Den Ebenen liegt die evolutionstheoretische Vorstellung zugrunde, dass Innovationen Variationen von Bestehendem darstellen, die sich in einem Selektionsprozess erfolgreich durchsetzen konnten. Das Neue muss also in das bestehende Regelwerk integriert und damit als »neue Normalität« festgeschrieben werden. Dies bedeutet zugleich, dass Neuerungen an etablierte gesellschaftliche Rahmenbedingungen anschlussfähig sein müssen, um sich als Innovationen durchsetzen zu können.So definiert Rammert Innovationen als »diejenigen Variationen von Ideen, Praktiken, Prozessen, Objekten und Konstellationen […], die durch kreative Umdeutung und Umgestaltung geschaffen oder durch zufällige Abweichung und Rekombination hervorgebracht worden sind, die als Verbesserung in einer akzeptierten Hinsicht erfahren und gerechtfertigt werden und die durch Imitation und Diffusion einen Bereich der Gesellschaft mit nachhaltiger Wirkung verändern.« Rammert: Innovationen, S. 39.Während die Relationen also dazu dienen, zu klären, ob eine Innovation vorliegt, wird mit den Referenzen danach gefragt, in welchem gesellschaftlichen Teilbereich sie wirkmächtig ist. Da jeder Referenzbereich seinen eigenen Logiken folgt, weisen sie unterschiedliche Kriterien auf, anhand derer die Durchsetzung von Innovationen bewertet werden kann.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Rammert verweist darauf, dass seine Referenzen den »dominierenden Zieldimensionen« bei Zapf (Soziale Innovationen, S. 175) und den »gesellschaftlichen Rationalitäten« bzw. »Nutzungsdimensionen« bei Gillwald (Konzepte sozialer Innovation, S. 14–15) entsprechen. Als den entscheidenden Mehrwert seines Innovationsmodells bewertet er die Unterscheidung von Relationen und Referenzen, weshalb sein Modell an analytischer Schärfe gewinne. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Rammert unterscheidet grundsätzlich zwischen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und künstlerischen Innovationen, und schlägt etwa kommerzielle Verbreitung, Gewinnerhöhung und Markterfolg als Kriterien zur Bewertung wirtschaftlicher Innovationen vor.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 41. Bei politischen Innovationen, die zu einer Veränderung der politischen Ordnung oder zu einem Politikwechsel führen, sieht er Machtzuwachs und Kontrollgewinn als entscheidende Bewertungsmaßstäbe an.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 42–43. Soziale Innovationen, die sich in Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zeigen, wären daran zu messen, ob sie neuen Formen sozialer Teilhabe ermöglichen oder über eine Mobilisierungskraft verfügen.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 43. Für die Bewertung von künstlerischen Innovationen sieht er nicht etwa den Marktpreis von Kunst als entscheidend an – das wäre ein ökonomisches Kriterium –, sondern ihre Wirkung auf künstlerische Perspektiven oder ihre Aufnahme in Sammlungen.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 44. Die Kriterien zur Klassifizierung von Innovationen sind also abhängig vom jeweiligen Referenzrahmen, wie auch andere Arten von Innovationen möglich sind,Vgl. Rammert: Innovationen, S. 45. Der einzige Referenzrahmen, der von Rammert explizit abgelehnt wird, ist Technik, weil Technik Teil der relationalen Innovationsbestimmung sei und technische Effizienz oder Rationalität auf einen externen Referenzrahmen, wie etwa Wirtschaft und Politik, angewiesen sei. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Es sei dabei explizit darauf hingewiesen, dass er diese genaue Unterscheidung hinsichtlich ›Sozial‹ nicht trifft, die sowohl eine Relation als auch eine Referenz sein kann. sofern Kriterien für sie definiert werden können. Nachdem die Relationen klären, ob eine Neuerung eine Innovation ist, und die Referenzen der näheren Bestimmung der Innovation dienen, erscheint es auch denkbar, dass eine Innovation in mehreren Referenzbereichen wirkmächtig ist, es sich also zugleich um eine soziale und ökonomische Innovation handelt.Rammerts Modell erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Innovationsprozessen, wie es auch den Blick für verschiedene analytische Aspekte schärft. Jedoch bringt es ebenso einige Unklarheiten und problematische Vorannahmen mit sich. Erstens entstehen Unschärfen, weil Rammert das ›Soziale‹ sowohl als Relation als auch als Referenzrahmen nutzt. Dies ist eng mit der grundlegenden Frage verbunden, wie die zeitliche oder sachliche Relation von Innovationen jenseits der sozialen festgestellt werden kann. Zweitens ist sein Modell, trotz der zeitlichen Relation zur Bestimmung von Innovationen, merklich ahistorisch konzipiert, wie sich dies insbesondere hinsichtlich der Referenzkriterien zeigt. Diese entsprechen im höchsten Maße einem eurozentristischen Verständnis von ›Erfolg‹, ein Umstand, der unreflektiert bleibt. Damit ist der dritte Kritikpunkt, die neuerliche normative Aufladung des Innovationsbegriffs durch die Referenzen, eng verbunden. Durch den Versuch, objektive Kriterien für Innovationen aufzustellen, treten Innovationen nicht mehr nur als Neuerungen oder Änderungen in Erscheinung. Stattdessen steht hinter diesen Maßstäben ein Verständnis von Innovation als Fortschritt, das an gegenwärtigen westlichen Wertvorstellungen ausgerichtet ist. Um diese erneute teleologische Sicht auf Innovationen zu vermeiden und um die Unschärfen zu reduzieren, schlagen wir eine alternative Konzeption von ›Innovation‹ als Analysekategorie vor.Analyseebenen einer verwaltungshistorischen InnovationsforschungDer Innovationsbegriff ermöglicht es in besonderer Weise, die Wandlungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung als Produkte sozialer Interaktion zu untersuchen. Dabei gilt es, sie als Resultate der Wechselwirkung von Artefakten, Akteuren und Praktiken in den jeweiligen historischen und lokalen Kontexten zu betrachten. Mit dieser Perspektive knüpft unser Analysemodell an zentrale Erkenntnisse der Wissenschaftsforschung an. Insbesondere die Science and Technology Studies und die daraus hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie haben die Rolle von Artefakten in der Wissensproduktion neu bestimmt: Sie werden nicht mehr nur als passive Objekte angesehen, über oder durch die menschliche Akteure Wissen herstellen. Stattdessen wirken Dinge an Praktiken des Erkennens, Verzeichnens und Kommunizierens mit.Klassisch: Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987; ders.: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2005. Ausgehend von der Wissenschaftsforschung hat die Akteur-Netzwerk-Theorie inzwischen auch Anwendung in anderen Forschungsfeldern gefunden. Neben ihrer Übertragung auf International Relations oder auf die Analyse der Rechtsprechung, wie sie Bruno Latour selbst vorgenommen hat,Zu International Relations siehe etwa: Andrew Barry: Material Politics. Disputes Along the Pipeline, Hoboken 2013; Bruno Latour: The Making of Law. An Ethnography of the Conseil d’Etat, Cambridge 2010; für weitere Anwendungen siehe: Anders Blok / Ignacio Farías / Celia Roberts (Hg.): The Routledge Companion to Actor-Network Theory, London 2020. beeinflusste sie auch die kulturgeschichtliche Öffnung der Verwaltungsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Verschiedene Arbeiten untersuchten, wie administrative Wissensordnungen und Routinen mit ihren Werkzeugen und Medien verwoben waren.Peter Becker / William Clark (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001; Chandra Mukerji: The Unintended State, in: Anthony Bennett / Patrick Joyce (Hg.): Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London 2010, S. 81–101; Patrick Joyce: The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, Cambridge 2013; Matthew S. Hull: Government of Paper. The Materiality of Bureaucracy in Urban Pakistan, Berkeley 2012. Dieser theoretische Zugang dient uns als Ausgangspunkt, um ein »reflexives« Analysekonzept für Neuerungen zu entwickeln.Michael Hutter et al.: Innovation Society Today. The Reflexive Creation of Novelty, in: Historical Social Research 40/3 (2015), S. 30–47. Mithilfe des Innovationsbegriffes nimmt dieses Modell drei Ebenen von Wandlungsprozessen in den Blick, die analytisch zu unterscheiden sind, aber oft gemeinsam auftreten: (1) Diskurse des Neuen, (2) Akteur:innen des Wandels und (3) Praktiken der Verwaltung.Auf der Ebene der Diskurse gilt es herauszuarbeiten, wie Wandel und Innovationen in ihrer jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Umfeld verhandelt wurden.Über Innovationen als Wahrnehmungsphänomene und die Bedeutung der Diskurse für ihre Untersuchung vgl. auch Michaela Belendez Bieler / Manuela Risch: Wahrnehmung und Deutung von Innovationen im sozialen Wandel, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 177–193. Anders als bei Rammert stellen wir den gesellschaftlichen Diskursen jedoch nicht die scheinbar objektiven zeitlichen und sachlichen Maßstäbe von Innovationen zur Seite. Stattdessen gilt es zunächst, grundlegend die Rahmung des Neuen an sich zu untersuchen. Sie ist keineswegs überzeitlich positiv, sondern war etwa im England der Frühen Neuzeit – wie der Innovationsbegriff selbst – stark negativ behaftet, wie Franziska Neumann und Hannes Ziegler in diesem Band demonstrieren. Sie zeigen jedoch auch, dass eine solche pejorative Konnotation nicht bedeutet, dass es keine Innovationen geben kann; sowohl auf Regierungsebene als auch in der lokalen Verwaltung gab es unterschiedlich verfasste Prozesse des Wandels. Dagegen führt der Beitrag von Alina Marktanner anhand ihrer Untersuchung zweier Innovationswettbewerbe für deutsche Stadtverwaltungen, sozusagen spiegelbildlich, die normative Aufladung des Innovationsbegriffs um die Jahrtausendwende vor Augen. Innovativität sollte als neue Richtschnur für die Selbstorganisation der Lokalverwaltung etabliert werden. Auch Frits van der Meer und Gerrit Dijkstra verweisen auf die Durchsetzung von ›Innovation‹ als Leitbegriff in der Verwaltung. Sie gehen jedoch ebenso darauf ein, dass eine unreflektierte Nutzung von Technologien negative Folgen für administrative Organisationen mit sich bringt, und konstatieren eine beginnende Skepsis gegenüber einem normativen Innovationsbegriff.Als weitere Dimension der Diskursebene legt die Analyse offen, welche Referenzrahmen herangezogen werden, um Neuerungen als wünschenswert darzustellen oder zu propagieren. In Wandlungsprozessen werden Begründungszusammenhänge und Problemwahrnehmungen expliziert und dadurch (konkurrierende) Wertmaßstäbe offenbart, die ansonsten oft stillschweigend an bürokratisches Handeln angelegt werden. Historische Leitnarrative von einer primär auf Patronage ausgerichteten Verwaltung der Frühen Neuzeit hin zu einer rationellen, regelgeleiteten Bürokratie der Moderne im Weber’schen Sinne erweisen sich hierbei als unzureichend, wie auch Neumann und Ziegler hervorheben. Soziale Repräsentationsfähigkeit war etwa auch in der stärker formalisierten französischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts noch eine wichtige Qualifikation von Staatsbeamten, wie Pierre Karila-Cohen und Jean Le Bihan in ihrem Beitrag zur Durchsetzung von Personalbögen zeigen. Bei der Herstellung von Rohrpostanlagen während des Zweiten Weltkrieges kamen zunächst Sicherheitskriterien zum Tragen, wie Laura Meneghello in ihrem Beitrag ausführt, während in späteren Verwendungszusammenhängen dieser Aspekt gegenüber Vorstellungen von Rationalisierung und Automatisierung an Bedeutung verlor. Zudem ist eine »Ökonomisierung« der Referenzrahmen seit dem 19. Jahrhundert zu konstatieren,Rüdiger Graf (Hg.): Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte, Göttingen 2019. allerdings in historisch sich wandelnder Weise. In der Debatte um die ›Vereinfachung‹ der ungarischen Verwaltung, die Mátyás Erdelyi analysiert, spielten etwa Vorstellungen von Produktivität und Effizienz der bürokratischen Routinen eine große Rolle. In der deutschen Lokalverwaltung des späten 20. Jahrhunderts sollten hingegen durch Innovationen, wie Marktanner zeigt, vor allem finanzielle Einsparungspotenziale erschlossen werden. Im Referenzrahmen der gegenwärtigen Formen einer »entörtlichten Bürokratie« durch digitale Mittel der Interaktion zwischen Bürger:innen und Verwaltung ist das Motiv der Bürgernähe mit jenem der Digitalisierung administrativer Organisationen verbunden, wie Katharina Reiling in ihrem Beitrag kritisch beleuchtet.Schließlich ist die Einschätzung von Innovationen als ›neu‹ selbst im höchsten Maße ein zeitgebundenes Phänomen. So sind es die Abweichungen von bestehenden Routinen, die als Neuerung gegenüber dem Alten erkannt werden. Diese Variationen sind aber erst dann Innovationen, wenn sie Teil der etablierten Routinen und Handlungsweisen werden. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass eine Variation, sobald sie eine Innovation wird, ab diesem Moment keine mehr ist, weil sie Teil des Alten wird. »Neuheit selbst ist dann nur die immer bloß gegenwärtige Grenze zwischen einer Vergangenheit, in der dieses Phänomen noch keine Neuheit war, und einer Zukunft, in der es keine Neuheit mehr sein wird.«Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 62. Der Beitrag von Sigrid Wadauer zu Arbeitsbüchern im Cisleithanien des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt eindrücklich diese Form der zeitgebundenen Bewertung von Innovationen: So wurden Arbeitsbücher von einer Innovation zu einem Sinnbild des Rückständigen in der Verwaltung.Aber dieses Zeitcharakteristikum von Innovation hat noch eine weitere Ebene: die situative, kontextabhängige Bewertung von Neuartigkeit. Neu meint bei der Analyse von Innovationen keine absolute Neuheit, sondern die Neuartigkeit im jeweiligen Kontext,Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34. oder anders gesagt, die Wahrnehmung von Neuheit im zeit- und ortsgebundenen Referenzrahmen. Diese situative Bewertung von Neuartigkeit zeigt Meneghello in ihrem Beitrag: Rohrpostanlagen waren in Ministerialgebäuden in Zagreb und Bukarest bereits seit dem Zweiten Weltkrieg in Verwendung, wurden jedoch noch um 1970 von Schweizer Zollbehörden als wünschenswerte Innovation eingefordert. Folglich ist bei genauer Betrachtung von historischen Innovationen eine Ungleichzeitigkeit von Innovationen zu beachten, auf die auch Johannes Löhr in seinem Beitrag zur Unternehmensberatung im deutschen Verteidigungsministerium verweist. Der Einsatz von Unternehmensberatungsfirmen war in der Wirtschaft bereits länger üblich, bevor die deutsche Ministerialverwaltung diese zu Beginn der 1980er-Jahre zur Durchsetzung neuer Ziel- und Organisationsvorstellungen engagierte.Als zweite Analyseebene des Innovationsbegriffs sind die Beziehungen zwischen Akteur:innen der Verwaltung und verschiedenen sozialen Gruppen zu untersuchen. Diese Analyseebene stellt damit eine zentrale Ergänzung zur Untersuchung der Diskurse und Wissensordnungen dar. Denn sie nimmt Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte in den Blick, die sich mit Innovationen verbinden. Wenn Innovationen nicht mehr mit Fortschritt gleichgesetzt werden, müssen Auseinandersetzungen um Neuerungen neu analysiert und beschrieben werden. Normative Zuschreibungen von innovationsfreundlichen und -feindlichen Akteur:innen erfassen diese Konflikte nur unzureichend. Deswegen gilt es zunächst, den Blick für die verschiedenen Akteure und Akteurinnen des Wandels in Bürokratien zu schärfen. Damit wird auch Webers Verwaltungsidealbild einer streng hierarchischen und regelgeleiteten Bürokratie aufgebrochen. Wie die Beiträge in diesem Band eindrücklich zeigen, mag die oberste Verwaltungsebene über die Macht verfügen, Wandel und Innovationen zu propagieren. Allerdings folgt daraus keine geradlinige Durchsetzung von Neuerungen. Vielmehr handelt es sich um Prozesse unter Beteiligung verschiedener Akteursgruppen. So zeigt Wadauer in ihrem Beitrag über Arbeitsbücher die Probleme der Diffusion einer Neuerung auf: Weder akzeptierten die involvierten Akteure der Verwaltung das neue Kontrollinstrument, noch nutzten Arbeitgeber und Arbeiter:innen die Bücher in der intendierten Weise. Oliver Falk hebt wiederum die Rolle von privatwirtschaftlichen Organisationen, den Versicherungen, bei der Einführung von bürotechnologischen Innovationen in der Charité Berlin hervor. Marktanner und Löhr legen in ihren Beiträgen hingegen offen, dass Ende des 20. Jahrhunderts externe Expertengruppen bemüht waren, sich als berufene Fachleute für die Organisation von Verwaltung zu etablieren.Auf dieser Analyseebene ist folglich auch nach den Handlungsräumen von Akteursgruppen zu fragen, die bisher weniger Beachtung gefunden haben. Jenseits der Initiatoren von Reformprogrammen ›von oben‹ ist vor allem die Bedeutung der Akteure und Akteurinnen der mittleren und lokalen Ebene von Verwaltungsorganisationen zu untersuchen. Wie Neumann und Ziegler für die Frühe Neuzeit darlegen, vollzogen sich auf der lokalen Ebene immer wieder Variationen in administrativen Handlungsroutinen, die Grundvoraussetzung einer Innovation ›von unten‹ sind. Die Bedeutung der mittleren und unteren Verwaltungsebene für die inhaltliche Ausgestaltung von Innovationen sowie ihren Einfluss auf diese zeigt der Beitrag von Elisabeth Berger über die Gestaltung von Innovationsprozessen im österreichisch-ungarischen Heer. Erdelyi hebt im Kontext von Reformen in der ungarischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts wiederum hervor, dass lokale Beamte auch zu dieser Zeit über bedeutende Handlungsräume verfügten, um Reformprozesse nur selektiv oder gar nicht umzusetzen.Schließlich ist zu beachten, dass bürokratische Innovationen in sozialen Interaktionen und Aushandlungsprozessen stattfinden und auf soziale Gruppen zurückwirken. Teleologische Erzählungen vernachlässigen jedoch, dass Innovationen auch in Machtkonstellationen zu verorten sind. So veranschaulicht Wadauer in ihrem Beitrag, wie die Einführung der Arbeitsbücher zunächst vor allem dem staatlichen und unternehmerischen Interesse diente, die Arbeitsmigration zu kontrollieren. Anhand des Einsatzes einer Unternehmensberatungsfirma zur Durchsetzung von betriebswirtschaftlichen Strukturen und Verfahren im deutschen Verteidigungsministerium verdeutlicht wiederum Löhr, wie das Einbinden neuer Akteure eine Machtstrategie des damaligen Ministers gegenüber der ministeriellen Verwaltung darstellte. Zudem können Innovationen neue soziale Gruppen, Konkurrenzverhältnisse und Ungleichheiten erzeugen, wie Michael Moss und David Thomas anhand der Verbreitung der Schreibmaschine im britischen civil service demonstrieren. Sie schuf eine neue Schicht weiblicher Angestellter, die schlechter bezahlt war als jene der männlichen Schreiber, die sie ersetzte.Die dritte Analyseebene betrifft die Praktiken der Verwaltung. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie lassen sich Verwaltungen als Konstellationen von Artefakten und Akteur:innen erfassen.Agar: The Government Machine, S. 45–142; Benjamin Kafka: Paperwork. The State of the Discipline, in: Book History 12 (2009), S. 340–353. Dabei liegt die Gestaltungsmacht nicht allein bei den Beamten, sondern die von ihnen verwendeten Objekte präfigurieren bestimmte Verwendungsweisen, ohne diese zu determinieren. Eine Engführung des Innovationsbegriffes auf rein technische Neuerungen greift daher zu kurz. Vielmehr müssen die Wechselwirkungen zwischen Artefakten, Akteur:innen und administrativen Praktiken in den Blick genommen werden. Anhand der Handlungsroutinen der Verwaltung lassen sich daher zugleich die Eigendynamiken von Neuerungsprozessen untersuchen. In administrativen Praktiken ist das Aufschreiben mit Prozessen der Wissensbildung und Entscheidungsfindung verbunden und daher muss einmal Dokumentiertes auch wieder auffindbar sein.Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000; Benjamin Kafka: The Demon of Writing. Powers and Failures of Paperwork, New York 2012; Lisa Gitelman: Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents, Durham 2014; Stefan Nellen: Das Wesen der Registratur. Zur Instituierung des Dokumentarischen in der Verwaltung, in: Renate Wöhrer (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin 2015, 225–248; Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hg.): Medien der Bürokratie, in: Archiv für Mediengeschichte 16 (2016). Diese multiplen Aufgaben befördern das Auftreten von Innovationskombinationen. Wie die Beiträge von Falk sowie Moss und Thomas veranschaulichen, zog die Einführung der Schreibmaschine auch die Nutzung neuer Formen der Vervielfältigung (Durchschlagspapier) und des Archivierens in der Aktenmappe nach sich. Moss und Thomas legen jedoch auch dar, dass die Digitalisierung von administrativen Kommunikationsprozessen im Vereinigten Königreich eine enorme Herausforderung für die Aufrechterhaltung eines organisatorischen ›Gedächtnisses‹ mit sich brachte. Die Digitalisierung administrativer Praktiken verändert zudem den Charakter der Interaktion zwischen Regierung und Gesellschaft, wie van der Meer und Dijkstra konstatieren. Diesen Befund beleuchtet Reiling in ihrem Beitrag über ‚M-Government‘ aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive.Auf dieser Analyseebene ist ebenso die Untersuchung der Praktiken als Teil kollektiver Handlungsmuster und Alltagsroutinen zu verorten. Den Blick für bürokratisches Handeln und ihre Abläufe zu schärfen, ermöglicht die Kontexte und Triebfedern von Innovationen zu beleuchten. Wie Erdelyi anhand der Debatten um eine ›Vereinfachung‹ der ungarischen Verwaltung vor Augen führt, speiste der hohe Formalisierungsgrad von Verwaltungshandeln im 19. Jahrhundert Reformdiskurse über administrative Handlungsroutinen. Aber nicht nur Praktiken der Verwaltung können einen Innovationsdruck erzeugen, sondern auch ihre Verflechtungen mit anderen administrativen Organisationen, wie Falk in seinem Beitrag zur Krankenhausverwaltung der Charité Berlin demonstriert. Sie musste sich den formalisierten Dokumentationsroutinen ihrer kommerziellen Gegenüber angleichen und dieselben technischen Mittel implementieren. Die Analyse von Praktiken sensibilisiert daher für das Zustandekommen von Innovationen ebenso wie für ihre Folgewirkungen. So verweist der Beitrag von Berger auf die Rolle des Berichts als Informationsmedium zur Ausgestaltung von Innovationen und jener von Reiling auf die Notwendigkeit, die rechtlichen Rahmenbedingungen infolge der Implementierung digitaler Techniken in der deutschen Verwaltung anzupassen.Indem diese Analyseebene auf die bürokratischen Praktiken und Artefakte fokussiert, ist sie für die Untersuchung von Wandel und Innovationen von zentraler Bedeutung. Im praktischen Vollzug werden Wissens- und Deutungsrahmen abgerufen und bestätigt, aber auch variiert und verändert. Um Wandel und Innovationen zu konstatieren, ist es notwendig, die Einschreibung jener neuen Variationen aufzuspüren, die Teil der Wissens- und Deutungsrahmen der Akteure wurden, wie Falk anhand der Implementierung neuer Bürotechniken in der Verwaltung der Charité Berlin demonstriert. Karila-Cohen und Le Bihan legen wiederum dar, wie man für die stärkere Formalisierung und staatliche Reglementierung der französischen Verwaltung im 19. Jahrhundert Selbstregulierungsmechanismen in Form der Personalbögen schuf.Peter Collin: »Gesellschaftliche Selbstregulierung« und »Regulierte Selbstregulierung« – ertragreiche Analysekategorien für eine (rechts-)historische Perspektive?, in: ders. et al. (Hg.): Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2013, S. 3–31. Dabei können auch Aneignungsformen und die darin enthaltene Kreativität der Akteure und Akteurinnen sichtbar werden, wie Meneghello durch die »zweckentfremdende« Nutzung der Rohrpostbüchsen für den Transport von Büromaterial im Bundeskanzleramt zeigt.ConclusionDie Vorstellung von Innovationen als technische Neuerungen und ihre normative Aufladung entspricht der gegenwärtigen populären und alltäglichen Deutung, sie fasst das Phänomen ›Innovation‹ jedoch nur unzureichend. So zeigen soziologische Theorien überzeugend, dass Innovationen soziale Produkte darstellen und Teil des gesellschaftlichen Wandels sind. Wie Braun-Thürmann und John argumentieren, unterliegen Gesellschaften einem ständigen Veränderungsprozess, der jedoch »als modifizierte Wiederholung des Gleichen, als gesellschaftliche Stabilität«Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 61. Ihrer Konzeption liegt ein evolutionäres Gesellschaftsverständnis zu Grunde. wahrgenommen wird. Dabei entsteht der Wandel durch Innovationen, bei denen es sich um jene Variationen in den Praktiken und Routinen handelt, die sich erfolgreich verbreiten und damit ihre Neuheit verlieren. Entgegen dem gegenwärtig dominanten Bild von Innovationen als techno-ökonomische Phänomene und der Vorstellung von radikalen und disruptiven Neuerungen handelt es sich bei Innovationen vielmehr um Teile eines kontinuierlich verlaufenden Wandlungsprozesses. Zudem sind Innovationen weder per se gut und wünschenswert noch stellen sie notwendigerweise eine Entwicklung zu etwas Besserem dar.Die alltägliche Auffassung des Begriffs ›Innovation‹ löst auf den ersten Blick ein Unbehagen hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Verwendung als Analysekategorie aus. Allerdings verdeutlicht die soziologische Theorie- und Begriffsbildung das Potenzial des Konzepts, um Phänomene des gesellschaftlichen Wandels zu untersuchen. Zugleich verweist die sozialwissenschaftliche Forschung jedoch auch auf die Herausforderungen in seiner empirischen Anwendung: So sind Innovationen, wenn man sie als Teile von gesellschaftlichem Wandel versteht, im Gegensatz zur oberflächlichen Betrachtung technischer Neuerungen schwer fassbar. Zudem handelt es sich um hochkomplexe soziale Vorgänge in einem kontinuierlich verlaufenden und flüchtigen Prozess über einen langen Zeitraum,Zur Schwierigkeit der Bestimmung von Innovationen und ihren Prozesscharakter vgl. etwa auch Inka Bormann: Indikatoren für Innovation – ein Paradox?, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 39–55; René John: Erfolg als Eigenwert der Innovation, in: Bormann / John / Aderhold (Hg.): Indikatoren, S. 77–96. Sie plädieren für einen qualitativen Zugang bei der Bestimmung von Innovationen. wie das relational-referentielle Innovationskonzept von Rammert zeigt. Darin liegen die Herausforderungen einer historischen Innovationsforschung, aber auch ihr großes Potenzial begründet.Um dieses Potenzial auszuschöpfen, schlagen wir vor, historische Innovationen anhand von drei Analyseebenen zu untersuchen. Dabei vermeidet der »reflexive« Zuschnitt von Innovation als Analysekategorie, den Innovationsbegriff in anachronistischer Weise auf frühere Zeitabschnitte zu übertragen.Hutter et al.: Innovation Society Today. Zugleich bietet er Einblicke, die den sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen fehlen. Wie Helmut Trischler und Kilian J. L. Steiner schreiben, ist es so möglich, den aktuellen Diskurs um den Innovationsbegriff zu historisieren,Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 485. was es erlaubt, darin eingelagerte Werturteile kritisch zu beleuchten. Die historische Tiefenschärfe der Analysekategorie ›Innovation‹ reicht jedoch über die Ebene der Diskurse hinaus. Für die Verwaltungsgeschichte ermöglicht sie es, die Anpassungs- und Wandlungsprozesse, die sich in Bürokratien laufend vollziehen, differenziert in den Blick zu nehmen. Die Rolle von Diskursen und Wertmaßstäben, Akteur:innen und Praktiken zu untersuchen, bedeutet auch, die jeweiligen Geschwindigkeiten von Innovationsprozessen auf diesen unterschiedlichen Ebenen zu analysieren. Wandel in semantischen Verknüpfungen, Praktiken und Erfahrungen sowie Erwartungen verlaufen nicht notwendigerweise synchron, zudem kommen in ihnen unterschiedliche zeitliche Horizonte zum Tragen.Innovationen und Wandel in der Verwaltung zu untersuchen, ermöglicht, das Bild der statischen Bürokratie aufzubrechen und stattdessen kontinuierliche Wandlungsprozesse herauszuarbeiten. Darüber hinaus bedeutet eine Innovationsgeschichte der öffentlichen Verwaltung, Bürokratien als Teil ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rahmung zu analysieren. Die staatliche Verwaltung wird dadurch in ihren Verflechtungen mit anderen Gesellschaftsbereichen sichtbar, die über Beziehungen zwischen ›Verwaltern‹ und ›Verwalteten‹ hinausgehen und Anpassungsdruck ebenso wie Lernprozesse umfassen. Umgekehrt erlaubt dieser Zugriff Rückschlüsse von der Verwaltung auf Wandel und Innovation in den jeweiligen Gesellschaften. http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png Administory de Gruyter

Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven

Administory , Volume 6 (1): 15 – Dec 1, 2021

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de Gruyter
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© 2022 Elisabeth berger et al., published by Sciendo
eISSN
2519-1187
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10.2478/adhi-2022-0012
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Abstract

EinleitungVerwaltungen gelten gemeinhin als statisch und resistent gegenüber Neuerungen. Dieser Befund begleitet moderne Verwaltungen seit der Bürokratiekritik des frühen 19. Jahrhunderts. Und doch haben sich administrative Organisationen seither immer wieder gewandelt. Dies gilt für ihre räumliche Anordnung ebenso wie für ihre technischen Werkzeuge und kommunikativen Mittel – sei es die Einführung des Bureaus oder des zeitgenössischen Bürgerbüros, der stählernen Tintenfeder oder des Computers, des vervielfältigbaren Vordrucks oder des digitalen Amts.Vgl. Delphine Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. Wie eine Revolution des Bürolebens unsere Gesellschaft verändert hat, übers. v. Stefan Lorenzer, Konstanz 2019; David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2018. Siehe auch die Projekte im von Gugerli geleiteten SNF-Projekt »Aushandlungszonen. Computer und Schweizerische Bundesverwaltung, 1960–2000«, online unter: https://p3.snf.ch/project-188795 (12. 09. 2022). Das Narrativ der Innovationsfeindlichkeit der Bürokratie verstellt den Blick für die Vielschichtigkeit derartiger Wandlungsprozesse. Ausgehend von dieser Beobachtung versucht der vorliegende Band auszuloten, ob Innovation als eine tragfähige Analyseperspektive in der Verwaltungsgeschichte dienen kann und für die Erforschung von Wandel in Bürokratien geeignet ist.Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Semantik der Neuerung grundlegend gewandelt. In Reinhart Kosellecks »Geschichtliche Grundbegriffe« gibt es keinen Eintrag zum Begriff Innovation. Er spielte im Untersuchungszeitraum Kosellecks, dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, noch keine Rolle. Gleichermaßen war der Terminus auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft der 1970er-Jahre, als die ersten Bände der »Geschichtlichen Grundbegriffe« erschienen, noch nicht weit verbreitet. Sehr wohl enthalten die »Geschichtlichen Grundbegriffe« jedoch einen Eintrag zu »Reform, Reformation«;Vgl. Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 313–361. Für eine Begriffsgeschichte von ›Innovation‹ siehe: Beno Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation Over the Centuries, London 2015. ein Begriff, der in den 1970er-Jahren (erneut) eine enorme Konjunktur erlebte.Niklas Luhmann: Reform des öffentlichen Dienstes. Zum Problem ihrer Probleme [1971], in: Veronika Tacke / Ernst Lukas (Hg.): Schriften zur Organisation, Bd. 4: Reform und Beratung, Wiesbaden 2020, S. 199–271. Seither ist jedoch die Rede von Innovation allgegenwärtig geworden. Dabei hat dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten in der Politik und im Alltag eine normative Aufladung erfahren, die potenziell alle Gesellschaftsbereiche unter Druck setzt, Neuerungen vorzunehmen oder Änderungen als Innovationen zu bezeichnen. Diesem gesellschaftspolitischen Innovationsverständnis konnte sich auch die Verwaltungswissenschaft nicht entziehen. Sie hat sich in den letzten Jahren vor allem damit befasst, wie administrative Organisationen innovationsfreundlicher werden können.Als analytische Kategorie scheint Innovation für die Verwaltungsgeschichte auf den ersten Blick ungeeignet zu sein. Daran mag es liegen, dass die jüngst stark zunehmende Historiografie zu technischen Neuerungen in Verwaltungen den Begriff entweder nur oberflächlich verwendet oder ganz vermeidet.Martin Campbell-Kelly: Information Technology and Organizational Change in the British Census, 1801–1911, in: Information Systems Research 7/1 (1996), 22–36; Jon Agar: The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer, Cambridge 2003; Gardey: Schreiben; David Arnold: Everyday Technology. Machines and the Making of India’s Modernity, Chicago 2013; Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Thomas Mullaney: The Chinese Typewriter. A History, Cambridge 2017. Umgekehrt werden historische Studien in der Innovationsforschung ebenfalls kaum oder nicht rezipiert, wie das »Kompendium Innovationsforschung« augenfällig macht. In der Riege der disziplinären Perspektiven auf Innovation, die Birgit Blättel-Mink und Raphael Menez darin versammeln, fehlt die Geschichtswissenschaft.Birgit Blättel-Mink / Raphael Menez: Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 46. Für die disziplinären Perspektiven auf Innovation vgl. S. 35–48. Eine Ausnahme stellt lediglich die Wissenschafts- und Technikgeschichte dar, die sich bereits seit Längerem mit den Entstehungsbedingungen von ›Neuem‹ befasst.Siehe u. a.: Dominique Pestre: Thirty Years of Science Studies. Knowledge, Society and the Political, in: History and Technology 20 (2004), S. 351–369; Reinhold Bauer: Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel, Frankfurt am Main 2006; Helmuth Trischler / Kilian J. L. Steiner: Innovationsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Wissenschaftlich konstruierte Nutzerbilder in der Automobilindustrie seit 1950, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 455–488.In den letzten Jahren ist allerdings ein gestiegenes Interesse am Begriff ›Innovation‹ in der Geschichtswissenschaft zu beobachten, sofern seine Erwähnung in Ausschreibungen auf dem Fachportal H-Soz-Kult als Indiz hierfür gewertet werden kann.Vgl. etwa den Tagungsbericht zu der im Jahr 2021 stattgefundenen Konferenz »Die Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor für religiöse und kulturelle Innovation im 18. Jahrhundert«, online unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9347 (01. 06. 2022), die Ankündigung der Konferenz »Mechanismen des Innovativen im klösterlichen Leben des hohen Mittelalters« im Jahr 2022, online unter: https://www.hsozkult.de/event/id/event-118096 (01. 06. 2022) oder den Call for Papers für das 2023 erscheinende Themenheft »Technik – Innovation – Wandel« der Zeitschrift »Didactica Historica«, online unter: https://www.hsozkult.de/event/id/event-115837 (01. 06. 2022). Ebenso zeigte der hohe Rücklauf auf den Call for Papers des vorliegenden Bandes von »Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte« das Interesse an dem Thema. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Band das analytische Potenzial des Begriffs für die Verwaltungsgeschichte aufzeigen. Bei genauerer Betrachtung wirft er zahlreiche Fragen auf, die zentrale Dimensionen des Wandels in administrativen Organisationen berühren: Was sind die Bewertungsmaßstäbe des ›Neuen‹ und wie verhält sich das ›Neue‹ zum Etablierten? Wer sind die Akteure und Akteurinnen von Veränderungen, welche Rolle spielen Artefakte als Triebfedern eines Wandels und wie verändern sich die administrativen Praktiken?Dafür ist es gewinnbringend, die Geschichtswissenschaft mit anderen Disziplinen in Dialog zu setzen. Die Wirtschaftswissenschaften, die Soziologie und nicht zuletzt die Technik- und Wissenschaftsforschung befassen sich bereits seit Jahrzehnten mit der Entstehung und Durchsetzung von Innovationen. Die Verwaltungswissenschaften rezipieren jedoch vor allem sozialwissenschaftliche Zugänge. Daher stellen wir im ersten Teil zunächst wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Konzepte von Innovation vor. Anschließend diskutieren wir das relational-referentielle Innovationskonzept des Techniksoziologen Werner Rammert. Soziologische Ansätze liefern aufgrund ihres theoretischen Fokus interessante analytische Einblicke in Innovationen als soziale Phänomene, allerdings bieten historiografische Methoden spezifische neue Perspektiven auf Innovationsprozesse, die sich von den stark an gegenwärtigen Debatten orientierten Sozialwissenschaften unterscheiden. Konzeptionelle Anregungen aus der Technik- und Wissenschaftsgeschichte aufgreifend entwickeln wir im zweiten Teil der Einleitung drei für die historische Bürokratieforschung zentrale Analyseebenen des Innovationsbegriffs. Die Beiträge des vorliegenden Bandes vertiefen diese Perspektiven.Sozialwissenschaftliche Grundlagen der Innovationsforschung in der VerwaltungswissenschaftWie die soziologische Forschung feststellte, ist das Sprechen über Innovation inflationär und allgegenwärtig. Darüber hinaus diagnostizierte sie auch einen Wandel hin zu einer Innovationsgesellschaft.Vgl. Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016. Zur Feststellung, dass sich Innovationen zur dominanten treibenden Kraft entwickeln vgl. insbesondere Werner Rammert et al.: Die Ausweitung der Innovationszone, in: Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016, S. 3–13. Zur grundsätzlichen Kritik an der zeitdiagnostischen Tendenz der Soziologie vgl. Fran Osrecki: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. Von der Vormoderne unterscheide sich die Gegenwart durch eine Institutionalisierung und Professionalisierung innovatorischen Handelns. So hätten sich gesellschaftliche Felder herausgebildet, »die darauf spezialisiert sind, systematisch, betriebsförmig und nach wissenschaftlichen Methoden verfahrend Innovationen hervorzubringen und sie in weitere gesellschaftliche Kreise diffundieren zu lassen«. Der Naturwissenschaft, deren Erkenntnisinteresse auf die Bildung von neuem Wissen fokussiert, sei dabei eine tragende Rolle zugekommen, weil sie Triebfeder technischer Forschung und Entwicklung war.Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 60–61.Zugleich ist ein allgemeines und kollektives Interesse an Innovation zu beobachten oder wie Jens Aderhold konstatiert: »Neuerungen sind in Mode.«Jens Aderhold: Probleme mit der Unscheinbarkeit sozialer Innovationen in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 109–126, hier S. 109. Diese Entwicklung sei zudem eng mit der Etablierung moderner Massenmedien verbunden. Sie würden sich in ihrer Aufmerksamkeitsökonomie der Präferenz der Gesellschaft für Neuerungen bedienen und diese dadurch wiederum stärken. Dabei würden Innovationen nicht nur verkürzt dargestellt, sondern die gesellschaftliche Aufmerksamkeit insbesondere auf technische Innovationen gelenkt,Vgl. Aderhold: Probleme, S. 110–111. während soziale Innovationen kaum Beachtung fänden.Vgl. Aderhold: Probleme, S. 109. Den Grund für diese Technikzentrierung und Ökonomisierung des Phänomens Innovation sieht Aderhold in der Vorstellung, dass die nationale Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb durch technische Innovationen gestärkt werden müsse.Vgl. Aderhold: Probleme, S. 112. Über diese Feststellung hinausgehend konstatiert Hartmut Hirsch-Kreinsen, eine »Hightech-Obsession« in der Gesellschaft,Vgl. Hartmut Hirsch-Kreinsen: Die Hightech-Obsession der Innovationspolitik, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 71–84, hier S. 72. der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im »Zeitalter der Globalisierung und der sich verschärfenden Innovationskonkurrenz das hiesige [europäische] Wohlstandsniveau allein über die forcierte Entwicklung von Technologien höchster und besonderer Qualität auf Dauer halten lässt.«Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 71. Dabei stellt er fest, dass der Zusammenhang von Spitzentechnologie und wirtschaftlicher Prosperität »bestenfalls den Charakter einer Hypothese habe« und »Innovationen in den wenigsten Fällen von hohen FuE-Aufwänden und Hightech-Entwicklungen getrieben werden.« Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 72. Für die Gründe der Fokussierung auf technische Innovationen vgl. Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 81–82.Diese Auffassung von Innovation prägt auch den sozialwissenschaftlich orientierten Strang der Verwaltungsforschung. In der anglo-amerikanischen Literatur lässt sich die Auseinandersetzung mit der (vermeintlich mangelnden) Innovativität der öffentlichen Verwaltung bis auf Victor Thompsons Aufsatz »Bureaucracy and Innovation« von 1965 zurückverfolgen. Darin postulierte er erstens, dass Organisationen innovativ sein müssen, um sich neuen Herausforderungen anzupassen. Zweitens hielt er fest, dass die zwei zentralen Eigenschaften des Idealtyps moderner Verwaltungen nach Max Weber, hierarchische Strukturen und formalisierte Routinen, Innovationen hemmen.Victor A. Thompson: Bureaucracy and Innovation, in: Administrative Science Quarterly 10/1 (1965), S. 1–20. In der deutschsprachigen Verwaltungswissenschaft erlebte der Begriff Innovation ab den 1980er-Jahren eine Konjunktur. Er wurde darin zum einen auf die Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien bezogen.Renate Mayntz: Informations- und Kommunikationstechnologien in der öffentlichen Verwaltung, Bd. 1: Anwendungsstand und Ansatzpunkte für informationstechnische Innovationen, Bonn 1983; Wolfgang Döhl: Akzeptanz innovativer Technologien in Büro und Verwaltung. Grundlagen, Analyse und Gestaltung, Göttingen 1983. Zum anderen drehten sich damalige Diskussionen bereits darum, wie innovationsförderliche Rahmenbedingungen in der Verwaltung hergestellt werden könnten.Norbert G. Linder: Organisationsentwicklung und Vorschlagswesen in der öffentlichen Verwaltung. Darstellung, Kritik und Ansätze einer Integration von Innovationsinstrumenten, Frankfurt am Main 1983.Zwei grundlegende Prämissen prägen diese verwaltungswissenschaftliche Literatur zu Innovation: Erstens geht sie von einem Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und Innovationen aus. Mangelnder Wettbewerbsdruck wäre etwa ein Faktor, warum die öffentliche Verwaltung weniger innovativ sei als kommerzielle Unternehmen.Ralf Daum: Public Innovation. Stand und Perspektiven des Innovationsmanagements im öffentlichen Sektor, in: Verwaltung und Management 18/6 (2012), S. 320–323, hier S. 320. Betriebswirtschaftliche Prämissen und unternehmerisches Handeln in der Verwaltung zu verankern, war daher ein Ziel des New Public Management-Ansatzes, der ab den 1990er-Jahren in der öffentlichen Verwaltung verschiedener europäischer Staaten durchgesetzt werden sollte.Lars Holtkamp: Verwaltungsreformen. Problemorientierte Einführung in die Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden 2012, S. 205–211. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass eine innovative Verwaltung die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinden, Regionen und des Staates erhöhe.Norbert Thom / Adrian Ritz: Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 42008, S. 123–124. Zweitens sieht sie in Innovationen Lösungen für neue Herausforderungen, die sich aus technologischen und/oder gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben.Heinrich Reinermann (Hg.): Öffentliche Verwaltung und Informationstechnik. Neue Möglichkeiten, neue Probleme, neue Perspektiven, Fachtagung, Speyer, 26.–28. September 1984, Berlin 1985; Hermann Hill: Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, in: Hermann Hill (Hg.): Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, Baden-Baden 2021, S. 9–22; Klaus König: Moderne öffentliche Verwaltung. Studium der Verwaltungswissenschaft, Berlin 2008, S. 657–766. Neuerungen dienen in dieser Perspektive dazu, die Kluft zwischen gesellschaftlichem Wandel und Verwaltungshandeln zu schließen. Dieses spezifische Innovationsverständnis entlang (betriebs-)wirtschaftlicher Maßstäbe und zeitgenössischer Problemdiagnosen resultiert daraus, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit die Innovationsforschung prägten und daher auch in der Verwaltungswissenschaft intensiv rezipiert wurden. Daher stellen wir im Folgenden zentrale Erkenntnisse, aber auch Probleme der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung vor.Die Dominanz ökonomisch-technischer AnsätzeDer Fokus auf (technischen) Innovationen als ökonomischer Wettbewerbsvorteil ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. Allerdings stand schon am Beginn der Innovationsforschung die Wirtschaftswissenschaft. Joseph Schumpeter entwickelte in seiner Monografie »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« erstmals ein Konzept von Innovation.Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1911. Darunter verstand er technische Neuerungen im weitesten Sinne, nicht nur neue oder verbesserte Produkte, sondern ebenso die Einführung neuer Produktionsmethoden und -prozesse oder die Erschließung neuer Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Seine Theorie sah ein lineares Phasenmodell vor, beginnend mit einer Erfindung, die erst durch die erfolgreiche Implementierung in den Wirtschaftskreislauf zu einer Innovation werde und anschließend einen Diffusionsprozess in Form der Nachahmung durch weitere Akteure erfahre.Zur theoretischen Konzeption von Schumpeter vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 67–78 und Leyla Dogruel: Eine kommunikationswissenschaftliche Konzeption von Medieninnovationen. Begriffsverständnis und theoretische Zugänge, Wiesbaden 2013, S. 141–149.Schumpeters Modell gilt als Klassiker der ökonomischen Innovationsforschung. Allerdings wurde in der späteren Rezeption Schumpeters weit gefasstes Verständnis von Innovationen als »neue Kombinationen« von Bestehendem stark verengt: So wurden und werden Innovationen implizit und explizit zumeist mit technischen Erfindungen gleichgesetzt.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 142. Nicht nur war Schumpeters Verständnis von Innovationen sehr breit, er sah Innovationen auch außerhalb der wirtschaftlichen Sphäre als wirkmächtige und prägende Kraft der Gesellschaft an.Vgl. Jürgen Howaldt / Michael Schwarz: Soziale Innovation – Konzepte, Forschungsfelder und -perspektiven, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 87–108, hier S. 96. In seiner Sicht war die Wirtschaft »nicht das alles Andere determinierende Primat« wie auch Innovationen auf dem Gebiet des sozialen Lebens eigenen Logiken folgen würden. Das zentrale Kapitel für dieses Verständnis von Innovationen in allen Lebensbereichen, »Das Gesamtbild der Volkswirtschaft«, wurde in den Nachdrucken des Werkes bezeichnenderweise zumeist weggelassen.Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 96, Fußnote 12. Das Kapitel ist im folgenden Nachdruck enthalten: Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006.Gegen Ende der 1960er-Jahre konstituierte sich die Innovationsforschung als eigenständiges Forschungsfeld, wobei es mit der Einrichtung der Science Policy Research Unit (SPRU) an der University of Sussex zur ersten Institutionalisierung kam. Ihr Ziel war es, Innovationen im wirtschaftlichen Handeln zu untersuchen.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 137. In den 1970er-Jahren erlebte die Innovationsforschung eine erste Konjunktur in Deutschland, in deren Verlauf es zur Engführung von Schumpeters Konzept auf technische Innovation kam und die Bedeutung von Prozessen und Organisationen weitgehend unberücksichtigt blieb. Diese erste Konjunktur der Innovationsforschung fand auch in der Geschichtswissenschaft ihren Niederschlag, etwa indem die Entstehung von technischen Neuerungen und ihre Auswirkungen während der Industrialisierung untersucht wurden.Vgl. Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 458.In den folgenden Jahrzehnten wurden Innovationen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit zunehmend zum Forschungsobjekt anderer Disziplinen, insbesondere der Soziologie, aber auch der Psychologie und der Kognitionswissenschaft.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 138. Dabei ist festzustellen, dass sich die Innovationstheorien ab den späten 1970er-Jahren von einer individualistischen Perspektive, wie sie etwa die zentrale Rolle des Unternehmers bei Schumpeter darstellt, hin zu einer Netzwerk- bzw. Systemperspektive entwickelten.Vgl. Birgit Blättel-Mink: Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 26 (2019), S. 53–65. Diese Neuausrichtung fand auch in der Verwaltungswissenschaft ihren Niederschlag, wo nun verstärkt der Zusammenhang zwischen ›Verwaltungskultur‹, Personalführung und Innovativität in den Mittelpunkt rückte.Michaela Frey: Hergebrachte Verwaltungskultur und Neues Steuerungsmodell. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Verwaltung, Organisation, Personal 18/1 (1996), S. 32–37; Richard Beckhard: Die gesunde Organisation. Ein Profil, in: Frances Hesselbein / Marshall Goldsmith / Richard Beckhard (Hg.): Organisation der Zukunft. Neue Orientierung für Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1998, S. 342–345; Thom / Ritz, Public Management, S. 39–52. Jedoch blieb die Dominanz der ökonomischen Perspektive weitgehend bestehen: Die Prämisse eines Wettbewerbsvorteils und der Zweck, den jeweils eigenen Wirtschafts- und Forschungsstandort für die Zukunft zu stärken, prägten Konzepte und Zielvorstellungen der Innovationsforschung. In der Politik- und Verwaltungswissenschaft lag der Fokus darauf, die politischen und bürokratischen Parameter zu identifizieren, die besonders innovationsförderliche Strukturen versprechen. Damit wird der Innovationsprozess Gegenstand von politischem Gestaltungswillen.Vgl. etwa Johannes Gadner / Gerhard Reitschuler: Die Gestaltung der Zukunft. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Dimensionen von Innovation, Wien 2015; für die Innovationssteuerung in der Verwaltung vgl. Norbert Thom / Adrian Ritz (Hg.): Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 52017 und Schauer Reinbert / Norber Thom / Dennis Hilgers (Hg.): Innovative Verwaltungen. Innovationsmanagement als Instrument von Verwaltungsreformen. Internationales Forschungscolloquium »Public Management« (PUMA-Forschungscolloquium), Johannes-Kepler-Universität Linz, eine Dokumentation, Linz 2011. Damit ist auch die Vorstellung verbunden, dass Innovationen plan- und steuerbar wären oder zumindest ihre Rahmenbedingungen.Das soziologische UnbehagenAls um die Wende zum 21. Jahrhundert die soziologische Forschung das Thema ›Innovation‹ systematisch aufgriff, verfolgte sie damit das Ziel, eine alternative Sichtweise auf Innovation zu etablieren: Technische und ökonomische Aspekte sollten nicht mehr allein bestimmend sein. Die Vorläufer der soziologischen Beschäftigung mit dem Thema ›Innovation‹ sind jedoch bereits älter. 1923 veröffentlichte etwa William F. Ogburn seine Studie »Social Change«, in der er die Theorie aufstellte, dass soziale Innovationen aus einem »cultural lag« resultieren würden.William F. Ogburn: Social Change. With Respect to Culture and Original Nature, London 1923. Darunter verstand er die Kluft, die daraus erwachse, dass die materielle Kultur (technologische Neuerungen) sich rascher ändere als die immaterielle Kultur (soziale Neuerungen). Soziale Innovationen seien Lösungen der dadurch entstehenden Probleme, würden sozialen Wandel vorantreiben und zur Verbesserung der Lebensbedingungen beitragen.Vgl. Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 55. Auch Robert K. Merton sah im Auseinandertreten kulturell wünschenswerter Ziele und sozial anerkannter Mittel, um sie zu erreichen, einen Faktor für Innovativität.Robert K. Merton: Social Structure and Anomie, in: American Sociological Review 3/5 (1938), S. 672–682, hier S. 672–673.Im Kontext von modernisierungstheoretischen Konzeptionen des sozialen Wandels griff die deutsche Soziologie in den 1980er-Jahren die Überlegungen von Ogburn wieder auf.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Mit seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz »Über soziale Innovationen« (1989) legte Wolfgang Zapf eine eigenständige soziologische Konzeption von sozialen Innovationen vor.Wolfgang Zapf: Über soziale Innovationen, in: Soziale Welt 40/1 (1989), S. 170–183. Er betonte den rekursiven Zusammenhang zwischen technischer und gesellschaftlicher Entwicklung und sah in sozialen Innovationen nicht nur die Folgen, sondern auch die Vorbedingungen und Begleitumstände von technischen Innovationen.Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 123; Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper Nr. P 00-519, Berlin 2000, S. 38. Unter sozialen Innovationen verstand er neue Handlungsmuster und -regeln, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Seine Konzeption war wie jene von Ogburn implizit von »einem Glauben an ein geschichtliches Telos« geprägt. Dieses sei, wie Holger Braun-Thürmann und René John feststellten, schon damals ein »anachronistisch wirkendes Fortschrittstelos« gewesen.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Zwar gelang es Zapf nicht, das Thema dauerhaft in der deutschsprachigen soziologischen Forschung zu verankern,Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 54; Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 97. der normative Zugang zu Innovationen prägte jedoch auch den folgenden Versuch, soziale Innovationen zu fassen.Katrin Gillwald nahm Zapfs Bemühungen um eine eigenständige Konzeption von sozialen Innovationen an der Jahrtausendwende wieder auf.Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. Sie machte sich eine Bestandsaufnahme bestehender Konzeptionen und eine Klassifizierung von sozialen Innovationen zur Aufgabe,Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation. Für eine andere Systematisierung sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung vgl. etwa Holger Braun-Thürmann: Innovation, Bielefeld 2005. Er plädiert dafür, »technologisch-ökonomische Innovationen als gesellschaftliche zu rekonstruieren und gesellschaftliche in ihren technologischen Aspekten zu betrachten.« Braun-Thürmann: Innovation, S. 13 die sie wie Zapf als Triebfeder des gesellschaftlichen Wandels ansah.Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 57. Gillwald betonte vor allem die Gemeinsamkeiten von technischen und sozialen Innovationen, die »Ergebnisse menschlichen Gestaltungswillens« seien, wobei »technische Innovationen Mittel und soziale Innovationen Akte gesellschaftlichen Wandels [sind]«.Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 36. In Abgrenzung zu Zapf sprach sie sich explizit für eine normative Deutung von sozialen Innovationen aus.So kritisierte Gillwald, dass auch Neuerungen mit negativen Effekten als Innovationen bezeichnet werden, wie dies etwa von Zapf im Falle des Ku-Klux-Klans gemacht wurde. In ihrer Konzeption von sozialen Innovationen folgt sie einem modernisierungstheoretischen Ansatz, weshalb sie diese wertneutrale Position für nicht akzeptabel hält. Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 17–18.Eine normative Aufladung des Innovationsbegriffs trifft jedoch nicht allein auf die Soziologie zu. So stellten Blättel-Mink und Menez in ihrem Kompendium fest, dass auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Innovation sehr häufig mit Fortschritt verknüpft wird.Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34. Diese normative Aufladung prägt auch die Verwaltungswissenschaft: Innovativität wird primär als Kapazität verstanden, Probleme zu lösen. Daher ist die Verwaltungswissenschaft bestrebt, Methoden zu entwickeln, um einerseits Innovativität und andererseits ihre (positiven) Wirkungen zu messen. So schufen etwa Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden ein Innovationsbarometer. Es soll sowohl die Innovativität des öffentlichen Sektors als auch den Wert der Neuerungen anhand ihrer Qualität und Effizienz sowie der Einbeziehung der Bürger und Zufriedenheit der Beschäftigten erfassen.Ole Bech Lykkebo et al: Measuring New Nordic Solutions, Innovation Barometer for the Public Sector, Denmark 2019. Im Gegensatz dazu sind jüngere soziologische Arbeiten bemüht, sich von einem normativen Verständnis von Innovation zu lösen. So stellten etwa Jürgen Howaldt und Michael Schwarz fest, dass Innovationen nicht per se gut oder sozial erwünscht, wie auch ihre Wirkung und ihr Nutzen je nach Standpunkt anders zu beurteilen sind.Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 90–91. Zu ihrer Konzeption sozialer Innovationen vgl. Jürgen Howald / Michael Schwarz: »Soziale Innovation« im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts, Bielefeld 2010. Gegen eine normative Aufladung und ein geschichtliches Telos sprechen sich ebenso Braun-Thürmann / John (Innovation, S. 63) aus.Betrachtet man die soziologischen Arbeiten zu Innovation, fällt auf, dass es kein einheitliches Begriffsverständnis oder Konzept gib,Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. jedoch sind Gemeinsamkeiten deutlich zu erkennen. Innovationen sind Variationen bestehender Routinen, die dann zu Innovationen werden, wenn sie sich durch Aneignung und Nachahmung stabilisieren und in bestehende Routinen aufgenommen werden. Die Einzelheiten dieses Prozesses unterscheiden sich abhängig von der theoretischen Ausrichtung, jedoch teilen die Zugriffe die Position, dass der gesellschaftliche Wandel von sozialen Innovationen angetrieben wird, die folglich ein Teil des Wandels sind. Damit zusammenhängend ist den soziologischen Ansätzen gemein, dass sie mehrheitlich nicht auf die in ökonomisch-technischen Ansätzen übliche Unterscheidung des Ausmaßes der Neuartigkeit von Innovationen rekurrieren, also keine Unterscheidung zwischen Basis- und Verbesserungsinnovation, oder zwischen radikaler Innovation, im Sinne einer absoluten Neuerung, und inkrementeller Innovation, im Sinne einer kontinuierlichen und schrittweisen Verbesserung, machen.Eine Ausnahme stellt Aderhold dar, der im Sinne des Strukturfunktionalismus dafür plädiert, nur bei Basisinnovationen, »die die Gesamtgesellschaft, ihre Teilsysteme, Organisationen oder Institutionen auf neue, nachhaltige und letztlich nichtbeabsichtigte Weise verändern«, von Innovationen zu sprechen. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 118. Das Hintanstellen dieser Frage nach dem Ausmaß der Neuartigkeit ist nicht verwunderlich, da im soziologischen Verständnis erstens Neues nur aus dem Bestehenden entstehen kann. Zweitens kann sich Neues nur dann als Innovation durchsetzen, wenn es anschlussfähig an das Bestehende ist: Absolute Neuheiten erweisen sich daher bei genauer Betrachtung immer als eine Illusion.Das relational-referentielle InnovationskonzeptDas wohl derzeit analytisch ausdifferenzierteste Konzept von sozialen Innovationen legte Werner Rammert vor. Seiner Ansicht nach reicht das enge Begriffsverständnis der ökonomischen Innovation nicht aus, um die vielfältigen Innovationen der Gesellschaft analytisch zu fassen.Vgl. Werner Rammert: Die Innovationen der Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 21–51, hier S. 24. So würden sich scheinbar rein technische Innovationen bei genauer Betrachtung selten als solche erweisen, wie sich auch zeigt, dass sie oft in Kombinationen auftreten.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 26 und 28. Um den Blick für die verschiedenen Aspekte von Innovationsprozessen zu schärfen, schlägt er ein Innovationsmodell vor, das zwischen Relationen und Referenzen unterscheidet. Dabei beziehen sich die Relationen auf jene Aspekte, die eine Innovation ausmachen, während sich die Referenzen auf jenen Bereich richten, in dem eine Innovation wirkmächtig ist, das heißt, auf den hin die Innovation ausgewählt, gefestigt und sichtbar wird. Rammert unterscheidet demnach zwischen verschiedenen Arten von Innovationen der Gesellschaft (technische, ökonomische, soziale, kulturelle etc.), wobei seinem Modell ein handlungsund evolutionstheoretisches Gesellschaftsverständnis zugrunde liegt.Zur analytischen Durchdringung des Phänomens wird im ersten Schritt nach den Relationen gefragt. Rammert schlägt vor, dabei zwischen einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension analytisch zu unterscheiden. Während die zeitliche Dimension auf den Gegensatz von Alt und Neu fokussiert, fragt die sachliche Dimension, ob eine Variation von etwas Altem, die »unabdingbare Voraussetzung für die Genese des Neuen«,Rammert: Innovationen, S. 32. vorliegt. Aus der Selektion und Stabilisierung der Variation entsteht das Neue aber erst ihre Durchsetzung macht sie zu einer Innovation.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 29–32, für den Zusammenhang von zeitlicher und sachlicher Dimension vor allem S. 32. Wie aus einer Neuerung eine Innovation wird, untersucht die soziale Dimension. Dazu unterscheidet Rammert wiederum drei Ebenen: eine semantische, pragmatische und grammatische Ebene. Mit ihnen werden die Diskurse, Praktiken und Regeln von Neuerungen untersucht, um festzustellen, ob es sich um eine Innovation handelt.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 32–34.Die semantische Ebene der sozialen Dimension bezieht sich auf den kommunikativen Konstruktionscharakter von Innovationen. Sie untersucht, ob eine Variation als Neu wahrgenommen und als solche kommuniziert wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 34. Werden auf der semantischen Ebene Sinnstiftungen und Diskurse betrachtet, richtet sich der Blick auf der pragmatischen Ebene auf das Handeln. Hier wird analysiert, ob eine Neuerung sich erfolgreich durchsetzt, indem sie nachgeahmt, angeeignet und reproduziert, kurzum selektiert wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 36–37. Auf der grammatischen Ebene wird schlussendlich danach gefragt, ob die Neuerung in den bestehenden institutionellen Rahmen aufgenommen wird.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 37. Den Ebenen liegt die evolutionstheoretische Vorstellung zugrunde, dass Innovationen Variationen von Bestehendem darstellen, die sich in einem Selektionsprozess erfolgreich durchsetzen konnten. Das Neue muss also in das bestehende Regelwerk integriert und damit als »neue Normalität« festgeschrieben werden. Dies bedeutet zugleich, dass Neuerungen an etablierte gesellschaftliche Rahmenbedingungen anschlussfähig sein müssen, um sich als Innovationen durchsetzen zu können.So definiert Rammert Innovationen als »diejenigen Variationen von Ideen, Praktiken, Prozessen, Objekten und Konstellationen […], die durch kreative Umdeutung und Umgestaltung geschaffen oder durch zufällige Abweichung und Rekombination hervorgebracht worden sind, die als Verbesserung in einer akzeptierten Hinsicht erfahren und gerechtfertigt werden und die durch Imitation und Diffusion einen Bereich der Gesellschaft mit nachhaltiger Wirkung verändern.« Rammert: Innovationen, S. 39.Während die Relationen also dazu dienen, zu klären, ob eine Innovation vorliegt, wird mit den Referenzen danach gefragt, in welchem gesellschaftlichen Teilbereich sie wirkmächtig ist. Da jeder Referenzbereich seinen eigenen Logiken folgt, weisen sie unterschiedliche Kriterien auf, anhand derer die Durchsetzung von Innovationen bewertet werden kann.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Rammert verweist darauf, dass seine Referenzen den »dominierenden Zieldimensionen« bei Zapf (Soziale Innovationen, S. 175) und den »gesellschaftlichen Rationalitäten« bzw. »Nutzungsdimensionen« bei Gillwald (Konzepte sozialer Innovation, S. 14–15) entsprechen. Als den entscheidenden Mehrwert seines Innovationsmodells bewertet er die Unterscheidung von Relationen und Referenzen, weshalb sein Modell an analytischer Schärfe gewinne. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Rammert unterscheidet grundsätzlich zwischen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und künstlerischen Innovationen, und schlägt etwa kommerzielle Verbreitung, Gewinnerhöhung und Markterfolg als Kriterien zur Bewertung wirtschaftlicher Innovationen vor.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 41. Bei politischen Innovationen, die zu einer Veränderung der politischen Ordnung oder zu einem Politikwechsel führen, sieht er Machtzuwachs und Kontrollgewinn als entscheidende Bewertungsmaßstäbe an.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 42–43. Soziale Innovationen, die sich in Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zeigen, wären daran zu messen, ob sie neuen Formen sozialer Teilhabe ermöglichen oder über eine Mobilisierungskraft verfügen.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 43. Für die Bewertung von künstlerischen Innovationen sieht er nicht etwa den Marktpreis von Kunst als entscheidend an – das wäre ein ökonomisches Kriterium –, sondern ihre Wirkung auf künstlerische Perspektiven oder ihre Aufnahme in Sammlungen.Vgl. Rammert: Innovationen, S. 44. Die Kriterien zur Klassifizierung von Innovationen sind also abhängig vom jeweiligen Referenzrahmen, wie auch andere Arten von Innovationen möglich sind,Vgl. Rammert: Innovationen, S. 45. Der einzige Referenzrahmen, der von Rammert explizit abgelehnt wird, ist Technik, weil Technik Teil der relationalen Innovationsbestimmung sei und technische Effizienz oder Rationalität auf einen externen Referenzrahmen, wie etwa Wirtschaft und Politik, angewiesen sei. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Es sei dabei explizit darauf hingewiesen, dass er diese genaue Unterscheidung hinsichtlich ›Sozial‹ nicht trifft, die sowohl eine Relation als auch eine Referenz sein kann. sofern Kriterien für sie definiert werden können. Nachdem die Relationen klären, ob eine Neuerung eine Innovation ist, und die Referenzen der näheren Bestimmung der Innovation dienen, erscheint es auch denkbar, dass eine Innovation in mehreren Referenzbereichen wirkmächtig ist, es sich also zugleich um eine soziale und ökonomische Innovation handelt.Rammerts Modell erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Innovationsprozessen, wie es auch den Blick für verschiedene analytische Aspekte schärft. Jedoch bringt es ebenso einige Unklarheiten und problematische Vorannahmen mit sich. Erstens entstehen Unschärfen, weil Rammert das ›Soziale‹ sowohl als Relation als auch als Referenzrahmen nutzt. Dies ist eng mit der grundlegenden Frage verbunden, wie die zeitliche oder sachliche Relation von Innovationen jenseits der sozialen festgestellt werden kann. Zweitens ist sein Modell, trotz der zeitlichen Relation zur Bestimmung von Innovationen, merklich ahistorisch konzipiert, wie sich dies insbesondere hinsichtlich der Referenzkriterien zeigt. Diese entsprechen im höchsten Maße einem eurozentristischen Verständnis von ›Erfolg‹, ein Umstand, der unreflektiert bleibt. Damit ist der dritte Kritikpunkt, die neuerliche normative Aufladung des Innovationsbegriffs durch die Referenzen, eng verbunden. Durch den Versuch, objektive Kriterien für Innovationen aufzustellen, treten Innovationen nicht mehr nur als Neuerungen oder Änderungen in Erscheinung. Stattdessen steht hinter diesen Maßstäben ein Verständnis von Innovation als Fortschritt, das an gegenwärtigen westlichen Wertvorstellungen ausgerichtet ist. Um diese erneute teleologische Sicht auf Innovationen zu vermeiden und um die Unschärfen zu reduzieren, schlagen wir eine alternative Konzeption von ›Innovation‹ als Analysekategorie vor.Analyseebenen einer verwaltungshistorischen InnovationsforschungDer Innovationsbegriff ermöglicht es in besonderer Weise, die Wandlungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung als Produkte sozialer Interaktion zu untersuchen. Dabei gilt es, sie als Resultate der Wechselwirkung von Artefakten, Akteuren und Praktiken in den jeweiligen historischen und lokalen Kontexten zu betrachten. Mit dieser Perspektive knüpft unser Analysemodell an zentrale Erkenntnisse der Wissenschaftsforschung an. Insbesondere die Science and Technology Studies und die daraus hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie haben die Rolle von Artefakten in der Wissensproduktion neu bestimmt: Sie werden nicht mehr nur als passive Objekte angesehen, über oder durch die menschliche Akteure Wissen herstellen. Stattdessen wirken Dinge an Praktiken des Erkennens, Verzeichnens und Kommunizierens mit.Klassisch: Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987; ders.: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2005. Ausgehend von der Wissenschaftsforschung hat die Akteur-Netzwerk-Theorie inzwischen auch Anwendung in anderen Forschungsfeldern gefunden. Neben ihrer Übertragung auf International Relations oder auf die Analyse der Rechtsprechung, wie sie Bruno Latour selbst vorgenommen hat,Zu International Relations siehe etwa: Andrew Barry: Material Politics. Disputes Along the Pipeline, Hoboken 2013; Bruno Latour: The Making of Law. An Ethnography of the Conseil d’Etat, Cambridge 2010; für weitere Anwendungen siehe: Anders Blok / Ignacio Farías / Celia Roberts (Hg.): The Routledge Companion to Actor-Network Theory, London 2020. beeinflusste sie auch die kulturgeschichtliche Öffnung der Verwaltungsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Verschiedene Arbeiten untersuchten, wie administrative Wissensordnungen und Routinen mit ihren Werkzeugen und Medien verwoben waren.Peter Becker / William Clark (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001; Chandra Mukerji: The Unintended State, in: Anthony Bennett / Patrick Joyce (Hg.): Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London 2010, S. 81–101; Patrick Joyce: The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, Cambridge 2013; Matthew S. Hull: Government of Paper. The Materiality of Bureaucracy in Urban Pakistan, Berkeley 2012. Dieser theoretische Zugang dient uns als Ausgangspunkt, um ein »reflexives« Analysekonzept für Neuerungen zu entwickeln.Michael Hutter et al.: Innovation Society Today. The Reflexive Creation of Novelty, in: Historical Social Research 40/3 (2015), S. 30–47. Mithilfe des Innovationsbegriffes nimmt dieses Modell drei Ebenen von Wandlungsprozessen in den Blick, die analytisch zu unterscheiden sind, aber oft gemeinsam auftreten: (1) Diskurse des Neuen, (2) Akteur:innen des Wandels und (3) Praktiken der Verwaltung.Auf der Ebene der Diskurse gilt es herauszuarbeiten, wie Wandel und Innovationen in ihrer jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Umfeld verhandelt wurden.Über Innovationen als Wahrnehmungsphänomene und die Bedeutung der Diskurse für ihre Untersuchung vgl. auch Michaela Belendez Bieler / Manuela Risch: Wahrnehmung und Deutung von Innovationen im sozialen Wandel, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 177–193. Anders als bei Rammert stellen wir den gesellschaftlichen Diskursen jedoch nicht die scheinbar objektiven zeitlichen und sachlichen Maßstäbe von Innovationen zur Seite. Stattdessen gilt es zunächst, grundlegend die Rahmung des Neuen an sich zu untersuchen. Sie ist keineswegs überzeitlich positiv, sondern war etwa im England der Frühen Neuzeit – wie der Innovationsbegriff selbst – stark negativ behaftet, wie Franziska Neumann und Hannes Ziegler in diesem Band demonstrieren. Sie zeigen jedoch auch, dass eine solche pejorative Konnotation nicht bedeutet, dass es keine Innovationen geben kann; sowohl auf Regierungsebene als auch in der lokalen Verwaltung gab es unterschiedlich verfasste Prozesse des Wandels. Dagegen führt der Beitrag von Alina Marktanner anhand ihrer Untersuchung zweier Innovationswettbewerbe für deutsche Stadtverwaltungen, sozusagen spiegelbildlich, die normative Aufladung des Innovationsbegriffs um die Jahrtausendwende vor Augen. Innovativität sollte als neue Richtschnur für die Selbstorganisation der Lokalverwaltung etabliert werden. Auch Frits van der Meer und Gerrit Dijkstra verweisen auf die Durchsetzung von ›Innovation‹ als Leitbegriff in der Verwaltung. Sie gehen jedoch ebenso darauf ein, dass eine unreflektierte Nutzung von Technologien negative Folgen für administrative Organisationen mit sich bringt, und konstatieren eine beginnende Skepsis gegenüber einem normativen Innovationsbegriff.Als weitere Dimension der Diskursebene legt die Analyse offen, welche Referenzrahmen herangezogen werden, um Neuerungen als wünschenswert darzustellen oder zu propagieren. In Wandlungsprozessen werden Begründungszusammenhänge und Problemwahrnehmungen expliziert und dadurch (konkurrierende) Wertmaßstäbe offenbart, die ansonsten oft stillschweigend an bürokratisches Handeln angelegt werden. Historische Leitnarrative von einer primär auf Patronage ausgerichteten Verwaltung der Frühen Neuzeit hin zu einer rationellen, regelgeleiteten Bürokratie der Moderne im Weber’schen Sinne erweisen sich hierbei als unzureichend, wie auch Neumann und Ziegler hervorheben. Soziale Repräsentationsfähigkeit war etwa auch in der stärker formalisierten französischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts noch eine wichtige Qualifikation von Staatsbeamten, wie Pierre Karila-Cohen und Jean Le Bihan in ihrem Beitrag zur Durchsetzung von Personalbögen zeigen. Bei der Herstellung von Rohrpostanlagen während des Zweiten Weltkrieges kamen zunächst Sicherheitskriterien zum Tragen, wie Laura Meneghello in ihrem Beitrag ausführt, während in späteren Verwendungszusammenhängen dieser Aspekt gegenüber Vorstellungen von Rationalisierung und Automatisierung an Bedeutung verlor. Zudem ist eine »Ökonomisierung« der Referenzrahmen seit dem 19. Jahrhundert zu konstatieren,Rüdiger Graf (Hg.): Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte, Göttingen 2019. allerdings in historisch sich wandelnder Weise. In der Debatte um die ›Vereinfachung‹ der ungarischen Verwaltung, die Mátyás Erdelyi analysiert, spielten etwa Vorstellungen von Produktivität und Effizienz der bürokratischen Routinen eine große Rolle. In der deutschen Lokalverwaltung des späten 20. Jahrhunderts sollten hingegen durch Innovationen, wie Marktanner zeigt, vor allem finanzielle Einsparungspotenziale erschlossen werden. Im Referenzrahmen der gegenwärtigen Formen einer »entörtlichten Bürokratie« durch digitale Mittel der Interaktion zwischen Bürger:innen und Verwaltung ist das Motiv der Bürgernähe mit jenem der Digitalisierung administrativer Organisationen verbunden, wie Katharina Reiling in ihrem Beitrag kritisch beleuchtet.Schließlich ist die Einschätzung von Innovationen als ›neu‹ selbst im höchsten Maße ein zeitgebundenes Phänomen. So sind es die Abweichungen von bestehenden Routinen, die als Neuerung gegenüber dem Alten erkannt werden. Diese Variationen sind aber erst dann Innovationen, wenn sie Teil der etablierten Routinen und Handlungsweisen werden. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass eine Variation, sobald sie eine Innovation wird, ab diesem Moment keine mehr ist, weil sie Teil des Alten wird. »Neuheit selbst ist dann nur die immer bloß gegenwärtige Grenze zwischen einer Vergangenheit, in der dieses Phänomen noch keine Neuheit war, und einer Zukunft, in der es keine Neuheit mehr sein wird.«Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 62. Der Beitrag von Sigrid Wadauer zu Arbeitsbüchern im Cisleithanien des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt eindrücklich diese Form der zeitgebundenen Bewertung von Innovationen: So wurden Arbeitsbücher von einer Innovation zu einem Sinnbild des Rückständigen in der Verwaltung.Aber dieses Zeitcharakteristikum von Innovation hat noch eine weitere Ebene: die situative, kontextabhängige Bewertung von Neuartigkeit. Neu meint bei der Analyse von Innovationen keine absolute Neuheit, sondern die Neuartigkeit im jeweiligen Kontext,Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34. oder anders gesagt, die Wahrnehmung von Neuheit im zeit- und ortsgebundenen Referenzrahmen. Diese situative Bewertung von Neuartigkeit zeigt Meneghello in ihrem Beitrag: Rohrpostanlagen waren in Ministerialgebäuden in Zagreb und Bukarest bereits seit dem Zweiten Weltkrieg in Verwendung, wurden jedoch noch um 1970 von Schweizer Zollbehörden als wünschenswerte Innovation eingefordert. Folglich ist bei genauer Betrachtung von historischen Innovationen eine Ungleichzeitigkeit von Innovationen zu beachten, auf die auch Johannes Löhr in seinem Beitrag zur Unternehmensberatung im deutschen Verteidigungsministerium verweist. Der Einsatz von Unternehmensberatungsfirmen war in der Wirtschaft bereits länger üblich, bevor die deutsche Ministerialverwaltung diese zu Beginn der 1980er-Jahre zur Durchsetzung neuer Ziel- und Organisationsvorstellungen engagierte.Als zweite Analyseebene des Innovationsbegriffs sind die Beziehungen zwischen Akteur:innen der Verwaltung und verschiedenen sozialen Gruppen zu untersuchen. Diese Analyseebene stellt damit eine zentrale Ergänzung zur Untersuchung der Diskurse und Wissensordnungen dar. Denn sie nimmt Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte in den Blick, die sich mit Innovationen verbinden. Wenn Innovationen nicht mehr mit Fortschritt gleichgesetzt werden, müssen Auseinandersetzungen um Neuerungen neu analysiert und beschrieben werden. Normative Zuschreibungen von innovationsfreundlichen und -feindlichen Akteur:innen erfassen diese Konflikte nur unzureichend. Deswegen gilt es zunächst, den Blick für die verschiedenen Akteure und Akteurinnen des Wandels in Bürokratien zu schärfen. Damit wird auch Webers Verwaltungsidealbild einer streng hierarchischen und regelgeleiteten Bürokratie aufgebrochen. Wie die Beiträge in diesem Band eindrücklich zeigen, mag die oberste Verwaltungsebene über die Macht verfügen, Wandel und Innovationen zu propagieren. Allerdings folgt daraus keine geradlinige Durchsetzung von Neuerungen. Vielmehr handelt es sich um Prozesse unter Beteiligung verschiedener Akteursgruppen. So zeigt Wadauer in ihrem Beitrag über Arbeitsbücher die Probleme der Diffusion einer Neuerung auf: Weder akzeptierten die involvierten Akteure der Verwaltung das neue Kontrollinstrument, noch nutzten Arbeitgeber und Arbeiter:innen die Bücher in der intendierten Weise. Oliver Falk hebt wiederum die Rolle von privatwirtschaftlichen Organisationen, den Versicherungen, bei der Einführung von bürotechnologischen Innovationen in der Charité Berlin hervor. Marktanner und Löhr legen in ihren Beiträgen hingegen offen, dass Ende des 20. Jahrhunderts externe Expertengruppen bemüht waren, sich als berufene Fachleute für die Organisation von Verwaltung zu etablieren.Auf dieser Analyseebene ist folglich auch nach den Handlungsräumen von Akteursgruppen zu fragen, die bisher weniger Beachtung gefunden haben. Jenseits der Initiatoren von Reformprogrammen ›von oben‹ ist vor allem die Bedeutung der Akteure und Akteurinnen der mittleren und lokalen Ebene von Verwaltungsorganisationen zu untersuchen. Wie Neumann und Ziegler für die Frühe Neuzeit darlegen, vollzogen sich auf der lokalen Ebene immer wieder Variationen in administrativen Handlungsroutinen, die Grundvoraussetzung einer Innovation ›von unten‹ sind. Die Bedeutung der mittleren und unteren Verwaltungsebene für die inhaltliche Ausgestaltung von Innovationen sowie ihren Einfluss auf diese zeigt der Beitrag von Elisabeth Berger über die Gestaltung von Innovationsprozessen im österreichisch-ungarischen Heer. Erdelyi hebt im Kontext von Reformen in der ungarischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts wiederum hervor, dass lokale Beamte auch zu dieser Zeit über bedeutende Handlungsräume verfügten, um Reformprozesse nur selektiv oder gar nicht umzusetzen.Schließlich ist zu beachten, dass bürokratische Innovationen in sozialen Interaktionen und Aushandlungsprozessen stattfinden und auf soziale Gruppen zurückwirken. Teleologische Erzählungen vernachlässigen jedoch, dass Innovationen auch in Machtkonstellationen zu verorten sind. So veranschaulicht Wadauer in ihrem Beitrag, wie die Einführung der Arbeitsbücher zunächst vor allem dem staatlichen und unternehmerischen Interesse diente, die Arbeitsmigration zu kontrollieren. Anhand des Einsatzes einer Unternehmensberatungsfirma zur Durchsetzung von betriebswirtschaftlichen Strukturen und Verfahren im deutschen Verteidigungsministerium verdeutlicht wiederum Löhr, wie das Einbinden neuer Akteure eine Machtstrategie des damaligen Ministers gegenüber der ministeriellen Verwaltung darstellte. Zudem können Innovationen neue soziale Gruppen, Konkurrenzverhältnisse und Ungleichheiten erzeugen, wie Michael Moss und David Thomas anhand der Verbreitung der Schreibmaschine im britischen civil service demonstrieren. Sie schuf eine neue Schicht weiblicher Angestellter, die schlechter bezahlt war als jene der männlichen Schreiber, die sie ersetzte.Die dritte Analyseebene betrifft die Praktiken der Verwaltung. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie lassen sich Verwaltungen als Konstellationen von Artefakten und Akteur:innen erfassen.Agar: The Government Machine, S. 45–142; Benjamin Kafka: Paperwork. The State of the Discipline, in: Book History 12 (2009), S. 340–353. Dabei liegt die Gestaltungsmacht nicht allein bei den Beamten, sondern die von ihnen verwendeten Objekte präfigurieren bestimmte Verwendungsweisen, ohne diese zu determinieren. Eine Engführung des Innovationsbegriffes auf rein technische Neuerungen greift daher zu kurz. Vielmehr müssen die Wechselwirkungen zwischen Artefakten, Akteur:innen und administrativen Praktiken in den Blick genommen werden. Anhand der Handlungsroutinen der Verwaltung lassen sich daher zugleich die Eigendynamiken von Neuerungsprozessen untersuchen. In administrativen Praktiken ist das Aufschreiben mit Prozessen der Wissensbildung und Entscheidungsfindung verbunden und daher muss einmal Dokumentiertes auch wieder auffindbar sein.Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000; Benjamin Kafka: The Demon of Writing. Powers and Failures of Paperwork, New York 2012; Lisa Gitelman: Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents, Durham 2014; Stefan Nellen: Das Wesen der Registratur. Zur Instituierung des Dokumentarischen in der Verwaltung, in: Renate Wöhrer (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin 2015, 225–248; Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hg.): Medien der Bürokratie, in: Archiv für Mediengeschichte 16 (2016). Diese multiplen Aufgaben befördern das Auftreten von Innovationskombinationen. Wie die Beiträge von Falk sowie Moss und Thomas veranschaulichen, zog die Einführung der Schreibmaschine auch die Nutzung neuer Formen der Vervielfältigung (Durchschlagspapier) und des Archivierens in der Aktenmappe nach sich. Moss und Thomas legen jedoch auch dar, dass die Digitalisierung von administrativen Kommunikationsprozessen im Vereinigten Königreich eine enorme Herausforderung für die Aufrechterhaltung eines organisatorischen ›Gedächtnisses‹ mit sich brachte. Die Digitalisierung administrativer Praktiken verändert zudem den Charakter der Interaktion zwischen Regierung und Gesellschaft, wie van der Meer und Dijkstra konstatieren. Diesen Befund beleuchtet Reiling in ihrem Beitrag über ‚M-Government‘ aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive.Auf dieser Analyseebene ist ebenso die Untersuchung der Praktiken als Teil kollektiver Handlungsmuster und Alltagsroutinen zu verorten. Den Blick für bürokratisches Handeln und ihre Abläufe zu schärfen, ermöglicht die Kontexte und Triebfedern von Innovationen zu beleuchten. Wie Erdelyi anhand der Debatten um eine ›Vereinfachung‹ der ungarischen Verwaltung vor Augen führt, speiste der hohe Formalisierungsgrad von Verwaltungshandeln im 19. Jahrhundert Reformdiskurse über administrative Handlungsroutinen. Aber nicht nur Praktiken der Verwaltung können einen Innovationsdruck erzeugen, sondern auch ihre Verflechtungen mit anderen administrativen Organisationen, wie Falk in seinem Beitrag zur Krankenhausverwaltung der Charité Berlin demonstriert. Sie musste sich den formalisierten Dokumentationsroutinen ihrer kommerziellen Gegenüber angleichen und dieselben technischen Mittel implementieren. Die Analyse von Praktiken sensibilisiert daher für das Zustandekommen von Innovationen ebenso wie für ihre Folgewirkungen. So verweist der Beitrag von Berger auf die Rolle des Berichts als Informationsmedium zur Ausgestaltung von Innovationen und jener von Reiling auf die Notwendigkeit, die rechtlichen Rahmenbedingungen infolge der Implementierung digitaler Techniken in der deutschen Verwaltung anzupassen.Indem diese Analyseebene auf die bürokratischen Praktiken und Artefakte fokussiert, ist sie für die Untersuchung von Wandel und Innovationen von zentraler Bedeutung. Im praktischen Vollzug werden Wissens- und Deutungsrahmen abgerufen und bestätigt, aber auch variiert und verändert. Um Wandel und Innovationen zu konstatieren, ist es notwendig, die Einschreibung jener neuen Variationen aufzuspüren, die Teil der Wissens- und Deutungsrahmen der Akteure wurden, wie Falk anhand der Implementierung neuer Bürotechniken in der Verwaltung der Charité Berlin demonstriert. Karila-Cohen und Le Bihan legen wiederum dar, wie man für die stärkere Formalisierung und staatliche Reglementierung der französischen Verwaltung im 19. Jahrhundert Selbstregulierungsmechanismen in Form der Personalbögen schuf.Peter Collin: »Gesellschaftliche Selbstregulierung« und »Regulierte Selbstregulierung« – ertragreiche Analysekategorien für eine (rechts-)historische Perspektive?, in: ders. et al. (Hg.): Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2013, S. 3–31. Dabei können auch Aneignungsformen und die darin enthaltene Kreativität der Akteure und Akteurinnen sichtbar werden, wie Meneghello durch die »zweckentfremdende« Nutzung der Rohrpostbüchsen für den Transport von Büromaterial im Bundeskanzleramt zeigt.ConclusionDie Vorstellung von Innovationen als technische Neuerungen und ihre normative Aufladung entspricht der gegenwärtigen populären und alltäglichen Deutung, sie fasst das Phänomen ›Innovation‹ jedoch nur unzureichend. So zeigen soziologische Theorien überzeugend, dass Innovationen soziale Produkte darstellen und Teil des gesellschaftlichen Wandels sind. Wie Braun-Thürmann und John argumentieren, unterliegen Gesellschaften einem ständigen Veränderungsprozess, der jedoch »als modifizierte Wiederholung des Gleichen, als gesellschaftliche Stabilität«Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 61. Ihrer Konzeption liegt ein evolutionäres Gesellschaftsverständnis zu Grunde. wahrgenommen wird. Dabei entsteht der Wandel durch Innovationen, bei denen es sich um jene Variationen in den Praktiken und Routinen handelt, die sich erfolgreich verbreiten und damit ihre Neuheit verlieren. Entgegen dem gegenwärtig dominanten Bild von Innovationen als techno-ökonomische Phänomene und der Vorstellung von radikalen und disruptiven Neuerungen handelt es sich bei Innovationen vielmehr um Teile eines kontinuierlich verlaufenden Wandlungsprozesses. Zudem sind Innovationen weder per se gut und wünschenswert noch stellen sie notwendigerweise eine Entwicklung zu etwas Besserem dar.Die alltägliche Auffassung des Begriffs ›Innovation‹ löst auf den ersten Blick ein Unbehagen hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Verwendung als Analysekategorie aus. Allerdings verdeutlicht die soziologische Theorie- und Begriffsbildung das Potenzial des Konzepts, um Phänomene des gesellschaftlichen Wandels zu untersuchen. Zugleich verweist die sozialwissenschaftliche Forschung jedoch auch auf die Herausforderungen in seiner empirischen Anwendung: So sind Innovationen, wenn man sie als Teile von gesellschaftlichem Wandel versteht, im Gegensatz zur oberflächlichen Betrachtung technischer Neuerungen schwer fassbar. Zudem handelt es sich um hochkomplexe soziale Vorgänge in einem kontinuierlich verlaufenden und flüchtigen Prozess über einen langen Zeitraum,Zur Schwierigkeit der Bestimmung von Innovationen und ihren Prozesscharakter vgl. etwa auch Inka Bormann: Indikatoren für Innovation – ein Paradox?, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 39–55; René John: Erfolg als Eigenwert der Innovation, in: Bormann / John / Aderhold (Hg.): Indikatoren, S. 77–96. Sie plädieren für einen qualitativen Zugang bei der Bestimmung von Innovationen. wie das relational-referentielle Innovationskonzept von Rammert zeigt. Darin liegen die Herausforderungen einer historischen Innovationsforschung, aber auch ihr großes Potenzial begründet.Um dieses Potenzial auszuschöpfen, schlagen wir vor, historische Innovationen anhand von drei Analyseebenen zu untersuchen. Dabei vermeidet der »reflexive« Zuschnitt von Innovation als Analysekategorie, den Innovationsbegriff in anachronistischer Weise auf frühere Zeitabschnitte zu übertragen.Hutter et al.: Innovation Society Today. Zugleich bietet er Einblicke, die den sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen fehlen. Wie Helmut Trischler und Kilian J. L. Steiner schreiben, ist es so möglich, den aktuellen Diskurs um den Innovationsbegriff zu historisieren,Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 485. was es erlaubt, darin eingelagerte Werturteile kritisch zu beleuchten. Die historische Tiefenschärfe der Analysekategorie ›Innovation‹ reicht jedoch über die Ebene der Diskurse hinaus. Für die Verwaltungsgeschichte ermöglicht sie es, die Anpassungs- und Wandlungsprozesse, die sich in Bürokratien laufend vollziehen, differenziert in den Blick zu nehmen. Die Rolle von Diskursen und Wertmaßstäben, Akteur:innen und Praktiken zu untersuchen, bedeutet auch, die jeweiligen Geschwindigkeiten von Innovationsprozessen auf diesen unterschiedlichen Ebenen zu analysieren. Wandel in semantischen Verknüpfungen, Praktiken und Erfahrungen sowie Erwartungen verlaufen nicht notwendigerweise synchron, zudem kommen in ihnen unterschiedliche zeitliche Horizonte zum Tragen.Innovationen und Wandel in der Verwaltung zu untersuchen, ermöglicht, das Bild der statischen Bürokratie aufzubrechen und stattdessen kontinuierliche Wandlungsprozesse herauszuarbeiten. Darüber hinaus bedeutet eine Innovationsgeschichte der öffentlichen Verwaltung, Bürokratien als Teil ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rahmung zu analysieren. Die staatliche Verwaltung wird dadurch in ihren Verflechtungen mit anderen Gesellschaftsbereichen sichtbar, die über Beziehungen zwischen ›Verwaltern‹ und ›Verwalteten‹ hinausgehen und Anpassungsdruck ebenso wie Lernprozesse umfassen. Umgekehrt erlaubt dieser Zugriff Rückschlüsse von der Verwaltung auf Wandel und Innovation in den jeweiligen Gesellschaften.

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Published: Dec 1, 2021

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