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Behinderungen – das sind Facetten und Möglichkeiten des Menschseins

Behinderungen – das sind Facetten und Möglichkeiten des Menschseins B. is 63 years old and has been working as a curative education nurse for people with disabilities for 43 years. He gives an insight into his ever yday professional life, describes his experience of the developments in disabilit y care over the last decades, and evaluates their progress and regress. He appeals to trainees in special education nursing not to be consumed by the aggravations of the care system and instead to hold on to their ideals and ideas of humanit y. Title Disabilities – Facets and Possibilities of Being Human Key words care work, disabilit y assistance, inclusion, working conditions, social work »Ich arbeite in einer Wohneinrichtung für geistig behinderte erwachsene Personen. Die Einrichtung ist diakonisch getragen und verfügt regional über vielfältige Arbeits-, Förder- und Freizeitangebote. Meine Aufgabe als Heilerziehungspf leger besteht da- rin, Menschen mit einer geistigen Behinderung, die einen hohen Unterstützungsbe- 1 B. und ich führen das Inter view am 17. August 2021. Wir verabreden uns auf der Terrasse seiner Woh - nung, auf meinem Schoß habe ich den ausgedruckten Fragebogen zum Thema Inklusion und Kritik an der sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe, den ich in der Form eines Inter views ins Gespräch um - setzen möchte. B. und ich haben schon häug fi über seine Arbeit als Heilerziehungspf leger gespro - chen – eine Inter viewsituation mit Diktiergerät ist jedoch ungewöhnlich für uns beide. Schnell merke ich, dass sich B.s Erfahrungsbericht zu seiner 40-jährigen Tätigkeit in der Behindertenhilfe ganz na - türlich zu einer Geschichte mit Anfang, Auf bau und Ende entwickelt, ohne dass ich die vorbereiteten Fragen noch einmal explizit vom Papier ablesen und gesondert stellen müsste. Aus diesem Grund habe ich mich nun im Nachhinein entschieden, meinen Part als Inter viewerin aus dem folgenden Text vollständig herauszunehmen und stattdessen B.s Ref lexionen als eigenständige Schilderung zur Darstellung zu bringen. (Redaktionelle Bemerkung v. Helen Akin) Corresponding author: Helen Akin und B.; aua-redaktion@riseup.net Open Access. © Helen Akin und B. 2022, published by transcript Verlag This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 (BY ) license 2022 54 Helen Akin im Gespr äch mit B� darf haben, bei der Alltagsbewältigung und bei der Suche nach einer Heimat zu unter- stützen sowie zu ihrer Lebensqualität in einer Gemeinschaf t beizutragen. In meinem Fall begleite ich seit 1978 eine Wohngruppe mit acht Männern mit einer geistigen Be- hinderung, die nun in der Zwischenzeit natürlich – wie ich selbst auch – alt geworden sind. Prinzipiell gibt es aber hier sehr diverse Wohngruppen mit jüngeren oder älteren Menschen, leichteren Behinderungen, psychisch auf fällige Personen oder auch sehr schwer pf legeintensive Stationen. Die Gruppe, auf der ich arbeite, wurde damals noch nach dem Ideal der Heterogenität zusammengesetzt: Das heißt, schwer behinderte und Personen mit leichteren Behinderungen wurden zusammengeführt und auch hin- sichtlich der Herkunf t oder der Altersstruktur kamen große Unterschiede zustande. Dass es sich in meinem Fall um eine reine Männergruppe handelt, liegt an dem älte- ren Datum der Gründung – heute kommt es vor allen Dingen in den Außenwohngrup- pen vermehrt zu gemischtgeschlechtlichen Gruppen. Seit ich angefangen habe hier zu arbeiten, hat die Einrichtung regional sehr expandiert – waren es am Anfang viel- leicht etwa 30 feste Wohngruppen auf einem ehemaligen Klostergelände, gibt es nun in vielen umliegenden Dörfern ausgegliederte Parzellen und Außenwohngruppen. In den Wohnbereichen kommen sehr unterschiedliche Berufsfelder zusammen: Heiler- ziehungspf leger*innen, Pf legefachkräf te wie Kranken- oder Altenpf leger*innen, As- sistenzkräf te aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die fortgebildet wurden für die Tätigkeit hier, freiwillige Sozialdienstleistende, hauswirtschaf tliche Gruppenhilfen, Putzkräf te (zunehmend als Leiharbeiter*innen von Fremdfirmen), Verwaltungsange- stellte, Mitarbeitende der Regiebetriebe (Hausmeisterei, Wäscherei, Großküche …) etc. Die Anfänge Als ich mich damals entschieden habe, meine Lehre als Kfz-Mechaniker abzubre- chen, fand ich es schön, mich in der Behindertenhilfe auf die verschiedenen Welten der Menschen mit geistigen Behinderungen einzulassen, zu erfahren, wo sie herkom- men, wer sie sind, wohin sie wollen und ihnen – immerhin versuchsweise – eine Hei- mat zu bieten. Die Ansprüche an meine eigene Tätigkeit sind für mich dann ein Stück weit erst aus der Arbeit selbst erwachsen und aus der Zusammenarbeit mit den Perso- nen, die mir hier begegnet sind und die für mich ganz anders waren als das Personen- feld, das ich zuvor in dem Wirtschaf tsbetrieb der Automechanik kennengelernt hatte. Die e Th men sprachen mich persönlich viel mehr an: So etwas wie Selbstref lexion oder die Frage nach dem Sinn – das waren Felder, mit denen ich mich selbst persönlich viel besser verbinden, an die ich gut anknüpfen konnte. Durch die Gespräche konnte ich viele neue Perspektiven dazugewinnen, wie man auf die Welt sieht, sowohl von mei- nen Kolleg*innen, aber vor allem auch von den Menschen mit Behinderungen, wo mir eine große Vielfalt an Gefühlsleben und Facetten des Menschseins begegnet ist, die für meinen Lebensweg eine sehr elementare Bedeutung gewonnen haben. Ich würde heute rückblickend sagen, dass es mir vor 43 Jahren, als ich hier anfing, noch sehr viel leichter e fi l, mich mit dieser Arbeit in der Behindertenhilfe zu identi - 2 Außenwohngruppen sind im Gegensatz zu stationären Gruppen dörf lich oder städtisch integriert. Im Gegensatz zum betreuten Wohnen, wo nur partiell unterstützende Kräf te vor Ort sind, ist in Außen - wohngruppen dauernd Personal vor Ort. B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 55 fizieren. Das hat vor allem damit zu tun, dass es früher noch etwas gab, was ich als konstruktive Streitkultur bezeichnen würde. Wir haben damals – ganz gleich in wel- chem Bereich der Einrichtung, ob auf den Wohngruppen, in den Regiebetrieben oder der Verwaltung – noch die Einstellung geteilt, dass die Lösung einer Problemlage ei- ner einzelnen Bewohner*in oder aber auch einer ganzen Wohngruppe nur zu finden ist, wenn wir uns darüber austauschen, d.h. die Vielfalt der Meinungen zusammen- tragen und aus diesem Gesamtwerk dasjenige herausziehen, was möglich ist und wo- rin sich alle wiederfinden, um gemeinsam einen Entschluss zu finden zugunsten der positiven Lebensqualität aller und jeder*s Einzelnen. Natürlich gab es da sehr viele Auseinandersetzungen. Diese konstruktive Streitkultur war anstrengend, aber auch extrem wichtig. Sie wurde im Verlaufe der Jahre immer weiter abgekürzt und verengt: Es gab weniger Besprechungen, der Kreis der Gesprächsteilnehmer*innen wurde im- mer enger gefasst, immer weniger Betreuer*innen hatten daran Anteil. Früher hatten und die Gruppenmitarbeiter*innen, deren Vorgesetzte, die Bezugsbetreuer*innen Angehörigen der Bewohner*innen an einem sehr großen Tisch Anteil an den Entwick- lungsgesprächen , auf deren Grundlage dann Pläne erstellt werden konnten für ein weiteres Vorgehen, das bestenfalls mit allen abgestimmt war. Diesen Aufwand spart man sich heute. Zur Behebung schwieriger Lebenssituationen hatte man damals au- ßerdem den geschichtlichen Hintergrund der jeweiligen Bewohner*innen stark be- rücksichtigt, deren soziale, familiäre und regionale Herkunf t. Vor etwa zehn Jahren jedoch hat man entschieden, dass nur noch die letzten drei Jahre der Biographie in der Dokumentation der Bewohner*innen hinterlegt sein sollen. Peu à peu begann man, den Menschen nicht mehr als Ganzes zu sehen, sondern nur noch die Probleme in den Blick zu nehmen und alles andere wegzukürzen. Auch die Angehörigen wurden aus den Gesprächen herausgenommen und haben heute einen separaten Angehörigenrat, der kaum oder selten überhaupt in eine konkrete Einmischung in unseren Arbeitsall- tag mündet. Mitarbeiter*innen auf Wohngruppen werden explizit dazu angehalten, sich über Schwierigkeiten auf den Wohngruppen nicht mit den entsprechenden Ange- hörigen auszutauschen. Besonders brenzlig kann es werden, wenn interne Daten wei- tergegeben werden. Arbeitsrecht der Kirchen Auf meinem persönlichen Weg in die Behindertenhilfe gab es auch Vorbilder für mich – beispielsweise ein ehemaliger Gruppenleiter namens K., der mich sehr faszinier- te. Er hatte eine sehr ruhige und gelassene, argumentative und souveräne Weise, sich mit Dingen auseinanderzusetzen und konnte Verhaltensweisen von Bewohner*innen sehr gut ergründen und für andere Mitarbeitende verständlich übersetzen, sodass man 3 Als Bezugsbetreuer*in wird in der Sozialpädagogik, der  Psychiatrie  sowie  der Sonder- und  Heilpäd- agogik eine besondere Beziehungs- und Bindungsg fi ur bezeichnet, die den Entwicklungsverlauf der hilfebedürf tigen Person intensiv begleitet. 4 Entwicklungsgespräche sind regelmäßige Gespräche, die im Rahmen eines erfolgreichen Betreu - ungs-, Bildungs- und Erziehungsverhältnisses womöglich gemeinsam mit der hilfebedürf tigen Per- son stattn fi den, um Beobachtungen und Zielsetzungen der Persönlichkeitsentwicklung abzuspre - chen. 56 Helen Akin im Gespr äch mit B� stets auch Rückschlüsse auf sich selbst und das eigene Verhalten ziehen konnte. K. hat nicht nur die Arbeit mit den Bewohner*innen, sondern auch die mit den Kolleg*innen immer mit großer Ernsthaf tigkeit verfolgt und sich mit viel Engagement für sie einge- setzt. Damals gab es beispielsweise die Diskussionen um den im Arbeitsrecht der Kir- chen sogenannten Dritten Weg. Der Dritte Weg ist ein kirchliches System zur Aushand- lung von Arbeitsvertragsbedingungen. Es ging darum, sich auch im kirchlichen Dienst eine Vertretung zu organisieren für die Interessen der Arbeitnehmer*innen, während die Gegenposition die Autonomie der Kirche verteidigte und eine zusätzliche gewerk- schaf tliche Vertretung nicht für nötig erachtete. Die Einigung des Dritten Weges lau- tete, dass man interne Mitarbeitervertretungen ermöglichte, jedoch das Stimmrecht im Schlichtungsausschuss nicht paritätisch verteilte, sondern immer ein zusätzliches Stimmrecht für die Arbeitgeber*innen vorsah. K. war einer der Sprecher und voran- treibenden Kräf te der gewerkschaf tlichen Organisation, der maßgeblich zum Gegen- gewicht auf der Arbeiternehmerseite gegen die Arbeitgeber*innen beitragen wollte und beigetragen hat. Letztlich siegte dennoch der Dritte Weg und verhinderte die Or- ganisation einer von der Kirche autonomen Gewerkschaf t – ein Dilemma, das bis heu- te anhält. In verschiedenen öf fentlichen Bereichen gibt es natürlich inzwischen Tarif- abschlüsse, die sich die Kirche zum Vorbild nimmt – doch in der Zwischenzeit isoliert sich die Kirche erneut und sucht Nischen, um den Beschlüssen der Gewerkschaf t Öf fent- liche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) auszuweichen. Der Konf likt des Dritten Weges währt also fort, aber nicht mehr in der Brisanz und der Deutlichkeit wie damals. Einstellungen und Typen von Sozialarbeiter*innen Neben den Personen, die für mich prägende Gestalten waren, begegnete ich in meiner Arbeit auch immer wieder Kolleg*innen, deren Arbeitseinstellung ich mit der Zeit im- mer leichter einschätzen und kategorisieren konnte. Beispielsweise traten damals wie heute häufig Personen die Arbeit mit einer Art christlichem Helfersyndrom an: Sie er - weisen sich als überengagiert und opfern sich für ihre eigenen Ideale auf. Ihr Überen- gagement bringt sie an die Grenzen der Belastbarkeit und in ein Hamsterrad auf der Suche nach Verwirklichung ihrer Ideale oder auch nach Anerkennung. Nach Letzterer sehnen sich of t Personen, welche die soziale Arbeit als Flucht oder Kompensation eige- ner psychischer oder sozialer Probleme instrumentalisieren. Ich möchte aber keines- wegs die christliche Motivation per se problematisieren: Auch sie kann meines Erach- tens mit einem sehr fortschrittlichen Menschenbild einhergehen, das besonders auf die individuelle Lebenssituation oder beispielsweise auch die körperlichen und seeli- schen Bedürfnisse einer Person achtet und auch mit schwierigen Verhaltensweisen – Aggressionen oder besonderen sexuellen Neigungen – respektvoll umgeht. Dann gibt es leider auch solche Typen, die die alltägliche Abhängigkeit und Hilfe- bedürf tigkeit von Menschen, mit denen man hier arbeitet, autoritär »lösen« und einen Genuss beim Ausleben von Autorität und Verfügungsgewalt empfinden. Für diese For - 5 Der dritte Weg ist ein kirchliches System zur Aushandlung von Arbeitsvertragsbedingungen, das sich aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ergibt und einen Kompromiss darstellt zwischen der Autonomie der Arbeitgeber*innen hinsichtlich der Arbeitsplatz- gestaltung einerseits und autonomen Tarif verhandlungen der Arbeitnehmer*innen andererseits. B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 57 men des Machtmissbrauchs gilt es, sich selbst und den Kolleg*innen gegenüber stets höchst sensibel zu sein. Die*r Andere ist dann nicht länger der Grund und die Motiva - tion der Arbeit, sondern das eigene Ego. Zudem gibt es den Typus des Blenders, der eigentlich nicht sehr viel Mühe und Kraf t einbringt, aber bemerkt hat, dass sich mithilfe von Artikulation und Selbstdar- stellung eine gute Karriere in sozialen Einrichtungen machen lässt. Als Blendwerk werden hier nicht bedeutende wirtschaf tliche Leistungen, sondern eine Art soziales Prestige zur Schau gestellt. Meiner Erfahrung nach sind es of tmals Personen, die aus anderen Berufsfeldern quereinsteigen, die weder solchem Blendwerk noch den christlichen Verklärungen der Arbeit anheimfallen und ihre Aufgabe mit großem Engagement erfüllen. Diese wissen dann einerseits um den Reiz der Arbeit mit Menschen, da sie vielleicht die andere, leis- tungsorientierte Seite der Gesellschaf t ebenfalls kennengelernt haben. Andererseits ist ihre Grundeinstellung realitätsgerechter. Die (un-)mögliche Grenze zwischen Privatleben und Arbeit Ich weiß, dass die soziale Arbeit ein prädestinierter Bereich für Symptomatiken wie Burnout ist, da die Arbeit emotional und moralisch stark auf das private Leben über- greifen kann. Andererseits ist es wichtig, sich eben auf diese Verbindung einzulassen und nicht stur dagegenzuhalten und sich selbst davon überzeugen zu wollen, dass mit dem Feierabend die Arbeit keine Rolle mehr zu spielen hat. Natürlich denkt man über manche e Th men länger nach und es gehen einem Dinge nah. In meinem Berufsleben gab es auch sehr harte Auseinandersetzungen und Situationen, in denen ich an mei- ne persönlichen Grenzen kam. Dass ich diese Dinge auch mit nach Hause genommen habe, hat für mich persönlich jedoch nie dazu geführt, dass ich in Unfrieden mit mir selbst geraten wäre. Und ab und an habe ich sicherlich selbst auch grenzüberschrei- tende Fehler begangen – es kann sich niemand wirklich von Machtdynamiken frei- sprechen in dieser Arbeit und von Fehlentscheidungen, in denen man das Wohl Ein- zelner gegen beispielsweise eine potentielle Gefährdung der Gemeinschaf t abwägen muss. Diese Situationen bedürfen jeden Tag eine neue Auslegung und Neubewertung der daran beteiligten Faktoren. Dafür braucht es aber den beständigen Dialog und die wechselseitige Beobachtung und Rückmeldung im Team mit den Kolleg*innen: In Si- tuationen von krassem Personalmangel gibt es diese wechselseitige Möglichkeit, als Korrektiv zu dienen, nicht mehr und das ist gefährlich. Man braucht eine konstruktive Gesprächsatmosphäre, in der vehemente, lösungsorientierte Auseinandersetzungen möglich und jeder zur Selbstkritik fähig ist. Aus einem solchen Klima heraus erwächst Freude und Engagement für die Arbeit und diese übertragen sich unmittelbar auf die Bewohner*innen der Einrichtung, die in diesen guten Zeiten eine auch sichtlich po- sitive Ausstrahlung innehaben. Es gibt in Wohngemeinschaf ten eine ganz intensive Gruppendynamik, die sich sehen und fühlen lässt und abhängig ist vom Beitrag und dem Wohlergehen jeder einzelnen Teilnehmer*in. Herrscht Unmut und Langeweile im Mitarbeiter*innenteam und verziehen sich alle ins Büro, anstatt aktiv in den Ge- meinschaf tsräumen Präsenz zu zeigen und am Alltagsleben der Bewohner*innen zu partizipieren, überträgt sich diese Schläfrigkeit und Vereinzelung auch auf die an- deren. Seit Jahren nimmt jedoch der Dokumentationsaufwand der Arbeit zu und die 58 Helen Akin im Gespr äch mit B� Aufenthalte in den Büroräumlichkeiten verlängern sich – früher hingegen waren Kü- che, Wohnzimmer oder Balkon die hauptsächlichen Aufenthaltsorte. Die Transformation der Arbeitsbedingungen Ich möchte hier noch einmal anknüpfen an das oben Gesagte über die konstruktive Streitkultur. Dazu gehörten auch Abteilungsbesprechungen mit allen Fachkräf ten der Wohngruppen, die Interesse hatten, und zuständigen Abteilungsleiter*innen über ak- tuelle Probleme – bis zu 30 Personen in einer großen Runde, in der alle Vorschläge und Bedenken von allen Personen eingebracht und für alle protokolliert wurden. Auch hier fanden Kürzungen statt: Die Fachkräf te wurden irgendwann nicht mehr eingela- den und statt der Gruppenleiter*innen wurden vor etwa vier Jahren Teamkoordina- tor*innen eingesetzt, die drei bis vier Gruppenleiter*innen ersetzen sollten. Personell und inhaltlich wurden diese Besprechungen so stark ausgedünnt, dass es irgendwann weder Diskussion noch Austausch mehr war, sondern lediglich ein In-Empfang-Neh- men von Erlassen der Leitungsebene, die dann in Befehlsform an die Mitarbeiter*in- nen der Wohngruppe weitergereicht wurden. Die Teamkoordinator*innen selbst je- doch haben am Arbeitsalltag auf den Wohngruppen meist keinen Anteil und sind nicht in Kontakt mit denjenigen Menschen mit Behinderung, die am Ende von den neuen Regeln betrof fen sind. Diese Form der Entscheidungsstruktur von oben herab ist letzt- lich entwürdigend – sowohl für das Personal, das am nächsten mit den Bewohner*in- nen der Einrichtung zusammenarbeitet, wie auch für die Bewohner*innen selbst. Als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin, die oder der all seine oder ihre Beobachtungen und Erfahrungen darauf ausrichtet, das Sprachrohr von Personen zu sein, die selbst nur eingeschränkt oder überhaupt nicht ihre Anliegen verbalisieren können, schaf f t das Unmut. Man verliert jede Möglichkeit der Mitbestimmung und fühlt sich instrumen- talisiert. Darauf wird unterschiedlich reagiert. Einerseits gibt es eine Welle an Kündi- gungen, andererseits finden Mitarbeiter*innen auch einen Weg, innerlich zu kündigen und nur noch Dienst nach Vorschr if t zu machen, ohne sich weiter für die Arbeit zu en- gagieren. Beschwerden können zwar in Schrif tform an die Leitungsebene an eine be- stimmte Stelle geschickt werden, aber ich persönlich habe nie eine Antwort auf mei- ne Briefe erhalten. Die Ausbildung zum*r Heilerziehungspfleger*in: »Alles ein wenig, aber nichts richtig« Meinen Beobachtungen nach gab es parallel zu den Entwicklungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ähnliche Entwicklungen in den Ausbildungsstätten der Heilerziehungspf lege. Als ich damals die Ausbildung zum Heilerziehungspf leger machte, gab es drei Grundfragen der Orientierung für die Sorge um den Menschen mit Behinderung: Woher kommt dieser Mensch? Wo steht er? Wohin möchte er? Der biogra- phische Hintergrund des Menschen und sein gegenwärtiger Stand im Leben – seine Vorlieben, Neigungen, Bedürfnisse – wurden bei allen Vorhaben und Zielsetzungen berücksichtigt. Diese Fragen bilden eine Art Modell für den Bezugsauf bau mit ei- nem Menschen. Nur wer diese Fragen berücksichtigt, kann einen Menschen in seiner B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 59 Ganzheit kennenlernen und eine Beziehung mit ihr*m begründen. Heute jedoch wird – das entnehme ich meinen Gesprächen mit Auszubildenden – auf die Beziehungsbil- dung immer weniger und auf die Austauschbarkeit immer mehr Wert gelegt. Als gute Heilerziehungspf legerin oder guter Heilerziehungspf leger gilt heute jemand, der sich leicht von A nach B schicken lässt, in sehr kurzer Zeit den Ist-Stand eines Menschen aufnimmt und nach diesem Ist-Stand den Menschen betrachtet. Diese*r gute Heiler- ziehungspf leger*in muss sich ein wenig in Pf legedingen auskennen, ein wenig in Be- treuungsarbeit, ein wenig in medizinischen Belangen. Und bei all diesen Bereichen ist das Entscheidende: nur ein Wenig. Es ist nicht mehr erwünscht, dass man sich hinein- kniet in eine neue Welt; stattdessen soll man nur einen oberf lächlichen Blick hinein- werfen. Das frustriert die Schüler*innen. Sie werden wunderbar passgerecht vorge- formt auf die Flexibilität, die heute auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Wer sich hingegen so gut mit der Bedürfniswelt der Personen auskennt, für die er oder sie arbei- tet, dass er f ür sie argumentieren und einstehen kann, fällt als anstrengend negativ auf. Früher – vor den Selbstbestimmungsbestrebungen der Betrof fenen in den 60ern und 70ern – gab es das pf legerische Ideal des sat t und sauber: Der Mensch mit Behinde- rung sollte hauptsächlich ausreichend mit Kleidung und Essen versorgt sein und un- ter saubereren Bedingungen leben. Dann gab es zu meiner Anfangszeit in den 80ern die von mir oben geschilderte Bestrebung, die Lebensqualität von Menschen mit Be- hinderung in das Zentrum der Arbeit zu rücken: Ihre Lebensqualität – das bedeutet ihr Glück, ihre Sehnsucht nach Heimat und Gemeinschaf t, ihr Vertrauen in sich selbst und das Leben. Aber heute sind wir wieder zurückgeschritten zum Grundsatz: sat t und sauber. Mit einem Unterschied: sat t und sauber und dokument ier t. Das Dokumentieren dient dabei häufig nur als Aushängeschild, um den Anschein zu erwecken, man hätte sich tatsächlich um die Lebensqualität der Bewohner*innen gekümmert und sie posi- tiv begleitet. Kreuzchen werden bef lissentlich in die Dokumente eingetragen, während die jeweilige Tätigkeit tatsächlich gar nicht praktiziert wurde. Man bemüht sich dar- um – vor allen Dingen gegenüber den Geldgeber*innen – den Anschein von Engage- ment aufrechtzuerhalten. Für die Menschen mit Behinderung, die hier leben, hat das ganz unterschiedliche psychische und soziale Konsequenzen. Manche ziehen sich sehr in sich selbst zurück, isolieren sich, entwickeln Gewohnheiten, die für Außenstehende absurd erscheinen, aber innerlich Halt bieten. Im Rahmen der Debatten um Inklusion wird mit Recht häufig auf das e Th ma der räumlichen Separierung abgehoben. Natürlich ist es wichtig, dass die Bewohner*in- nen aus ihrer Wohneinrichtung herauskommen, am ländlichen und städtischen Le- ben partizipieren, Freizeiten und Reisen wahrnehmen – auch diese Aspekte gehören zur oben erwähnten Lebensqualität. In den letzten Jahren wurden Gruppenausf lüge für uns aufgrund von Sparmaßnahmen immer weiter eingeschränkt. Auf der anderen Seite brauchen diese Menschen, mit denen ich arbeite, aber ebenso sehr einen festen – räumlichen und innerlichen – Ausgangspunkt und eine gefestigte Wahrnehmung und Sicherheit, wenn es darum geht, wer sie selbst sind. Eine lediglich räumliche Zusam- menführung der sogenannten Normalgesellschaf t und der Menschen mit Behinde- rung allein schaf f t keine Inklusion. Für die Inklusion ist Gespräch, Arbeit und Ref le- xion vonnöten, und zwar sowohl auf der Seite der sogenannten nor malen Menschen wie auch auf der Seite des Menschen mit Behinderung. Im Laufe meiner Arbeit haben sich die Begrif fe zur Bezeichnung von Hilfeformen und Tätigkeitsfeldern immer wie- der verändert, während die Sachlage zugleich meist unverändert blieb. Für mich und 60 Helen Akin im Gespr äch mit B� die Bewohner*innen hat diese Fachsprache keinerlei Bedeutung – sie dient vielmehr dem Blendwerk der Behindertenhilfe, mit dem man sich nach außen hin gut präsen- tieren kann. Wie kann man dagegenhalten? In meiner Arbeit habe ich immer versucht – vor allem in den Gesprächen mit neuen Mitarbeiter*innen – zu vermitteln, was für mich diese Arbeit ausmacht, und ich glau- be, das ist mir auch häufig gelungen, da es sich dabei nicht nur um theoretische Fragen handelt: Man kann meine Beziehung zu den Bewohner*innen der Wohngruppe sehen und den Umgang, den wir miteinander pf legen, die Empathie, die wir wechselseitig für unsere Lebenssituation auf bringen. Das hat auf viele Menschen einen Eindruck gemacht, der ihnen sehr gefallen hat und mir auch so zurückgemeldet wurde. Ich rate ihnen dann vor allen Dingen eines: »Lasst Euch von diesem System nicht auf fressen!« Solange sie darauf Acht geben, dass sie selbst nicht krank werden, sollen sie an ihren Werten und Ref lexionen festhalten und das Wohl der Menschen mit Behinde- rung im Blick behalten. Wenn ich eine Gewissheit habe, ist das, dass kein Mensch auf der Welt das Bestreben hegt, unglücklich zu sein. Wann immer man bei einem Men- schen, der einen umgibt, ein Zeichen vernimmt, dass dieser unglücklich ist, muss man die Gründe dafür herausfinden. Wenn man aber ab irgendeinem Zeitpunkt diese Ar - beit nur noch wahrnehmen kann als das Mittel, um sein Geld zu verdienen, sollte man es sein lassen, denn damit macht man sowohl sich selbst als auch die anderen Men- schen krank. Behinderung ist niemals nur ein Defizit, sondern geht immer mit elementaren po - sitiven Eigenschaf ten und Besonderheiten einher. Wenn man heute eine*n Mitarbei- ter*in einer Pf legeeinrichtung um eine Beschreibung einer Person mit Behinderung bittet, wird diese in den meisten Fällen sehr viele negative Verhaltensweisen beschrei- ben – »A. hat Schwierigkeiten, selbstständig zu essen, A. kann nicht selbstständig zur Toilette gehen, A. fällt es schwer, sich in die Gemeinschaf t zu integrieren etc. etc.« –, während die Fähigkeiten und positiven Seiten meist völlig vernachlässigt werden. Um diese positiven Beschreibungen zu sammeln, braucht es eine Vielfalt von Men- schen, mit denen man sein eigenes Bild von dieser Person und seine Beobachtungen austauschen kann. Zudem bedarf es der ständigen Lernbereitschaf t. Und die eigene Persönlichkeit und Weltanschauung muss in die Tätigkeit einbezogen werden. Wäh- rend meiner Ausbildung hatte ich beispielsweise einen Lehrer, der genau diese Eigen- schaf t gefördert und uns immer dazu angeregt hat, mit ihm auf eine Reise zu gehen in unser eigenes Inneres, indem er Fragen stellte, die uns dazu nötigten, in uns selbst zu gehen und über uns selbst nachzudenken und eine Übertragung dieser Erkenntnisse auf die eigene pädagogische Arbeit zu versuchen. Ich glaube, dass sich gesamtgesellschaf tlich betrachtet die Einstellung gegen- über Behinderungen ins Positive verändert hat. Menschen mit Körperbehinderun- gen beispielsweise – so mein Eindruck – sind in den letzten Jahren sehr viel souverä- ner, selbstbestimmter und sichtbarer geworden. Das ist toll. Ich würde mir wünschen, dass den Menschen mit einer geistigen Behinderung die gleiche Aufmerksamkeit zu- kommt und dieselben Foren geöf fnet werden, ohne hier neue Priorisierungen und Hierarchisierungen – beispielsweise nach Grad der Behinderung, nach Leistungsfä- B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 61 higkeit oder nach Alter – einzuführen. Dies ist nur möglich – vor allem wo schwere geistige Beeinträchtigungen und Sprachbehinderungen vorliegen –, wenn das engs- te Umfeld der Familie und das pf legerische Personal als Sprachrohr miteinbezogen werden. Mein Anliegen ist es, in meinem Beruf als ein Anwalt für die Bedürfnisse und Anliegen dieser Personen einzutreten, die dies aus unterschiedlichen Gründen nicht selbstständig vermögen. Dieses Anliegen wurde mir zuletzt zunehmend erschwert, weswegen das Gefühl einer Machtlosigkeit in mir wuchs. Selbst für die Personen, die ich seit nunmehr 43 Jahren durch meinen Beruf kenne, für die und mit denen ich ge- arbeitet habe, wird mir immer mehr die Möglichkeit genommen, ihre Interessen zu vertreten. Auf diese Interessenvertretung aber sind sie existenziell angewiesen und ansonsten den Entscheidungen von Geldgeber*innen und Verwaltungsangestellten ausgeliefert, die ihnen völlig fremd sind. Zur Übernahme einer solchen Anwaltschaf t würde ich junge Auszubildende der Heilerziehungspf lege gerne motivieren.« B. ist 63 Jahre alt und seit 43 Jahren als Heilerziehungspf leger für Menschen mit Behin- derungen tätig. Er hat vier Kinder, darunter einen schwer mehrfach behinderten er- wachsenen Sohn. B. ist wohnhaf t im Schwabenland, Baden-Württemberg. http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gespräch de Gruyter

Behinderungen – das sind Facetten und Möglichkeiten des Menschseins

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de Gruyter
Copyright
© 2022 by transcript Verlag
eISSN
2750-1949
DOI
10.14361/aua-2022-010105
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Abstract

B. is 63 years old and has been working as a curative education nurse for people with disabilities for 43 years. He gives an insight into his ever yday professional life, describes his experience of the developments in disabilit y care over the last decades, and evaluates their progress and regress. He appeals to trainees in special education nursing not to be consumed by the aggravations of the care system and instead to hold on to their ideals and ideas of humanit y. Title Disabilities – Facets and Possibilities of Being Human Key words care work, disabilit y assistance, inclusion, working conditions, social work »Ich arbeite in einer Wohneinrichtung für geistig behinderte erwachsene Personen. Die Einrichtung ist diakonisch getragen und verfügt regional über vielfältige Arbeits-, Förder- und Freizeitangebote. Meine Aufgabe als Heilerziehungspf leger besteht da- rin, Menschen mit einer geistigen Behinderung, die einen hohen Unterstützungsbe- 1 B. und ich führen das Inter view am 17. August 2021. Wir verabreden uns auf der Terrasse seiner Woh - nung, auf meinem Schoß habe ich den ausgedruckten Fragebogen zum Thema Inklusion und Kritik an der sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe, den ich in der Form eines Inter views ins Gespräch um - setzen möchte. B. und ich haben schon häug fi über seine Arbeit als Heilerziehungspf leger gespro - chen – eine Inter viewsituation mit Diktiergerät ist jedoch ungewöhnlich für uns beide. Schnell merke ich, dass sich B.s Erfahrungsbericht zu seiner 40-jährigen Tätigkeit in der Behindertenhilfe ganz na - türlich zu einer Geschichte mit Anfang, Auf bau und Ende entwickelt, ohne dass ich die vorbereiteten Fragen noch einmal explizit vom Papier ablesen und gesondert stellen müsste. Aus diesem Grund habe ich mich nun im Nachhinein entschieden, meinen Part als Inter viewerin aus dem folgenden Text vollständig herauszunehmen und stattdessen B.s Ref lexionen als eigenständige Schilderung zur Darstellung zu bringen. (Redaktionelle Bemerkung v. Helen Akin) Corresponding author: Helen Akin und B.; aua-redaktion@riseup.net Open Access. © Helen Akin und B. 2022, published by transcript Verlag This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 (BY ) license 2022 54 Helen Akin im Gespr äch mit B� darf haben, bei der Alltagsbewältigung und bei der Suche nach einer Heimat zu unter- stützen sowie zu ihrer Lebensqualität in einer Gemeinschaf t beizutragen. In meinem Fall begleite ich seit 1978 eine Wohngruppe mit acht Männern mit einer geistigen Be- hinderung, die nun in der Zwischenzeit natürlich – wie ich selbst auch – alt geworden sind. Prinzipiell gibt es aber hier sehr diverse Wohngruppen mit jüngeren oder älteren Menschen, leichteren Behinderungen, psychisch auf fällige Personen oder auch sehr schwer pf legeintensive Stationen. Die Gruppe, auf der ich arbeite, wurde damals noch nach dem Ideal der Heterogenität zusammengesetzt: Das heißt, schwer behinderte und Personen mit leichteren Behinderungen wurden zusammengeführt und auch hin- sichtlich der Herkunf t oder der Altersstruktur kamen große Unterschiede zustande. Dass es sich in meinem Fall um eine reine Männergruppe handelt, liegt an dem älte- ren Datum der Gründung – heute kommt es vor allen Dingen in den Außenwohngrup- pen vermehrt zu gemischtgeschlechtlichen Gruppen. Seit ich angefangen habe hier zu arbeiten, hat die Einrichtung regional sehr expandiert – waren es am Anfang viel- leicht etwa 30 feste Wohngruppen auf einem ehemaligen Klostergelände, gibt es nun in vielen umliegenden Dörfern ausgegliederte Parzellen und Außenwohngruppen. In den Wohnbereichen kommen sehr unterschiedliche Berufsfelder zusammen: Heiler- ziehungspf leger*innen, Pf legefachkräf te wie Kranken- oder Altenpf leger*innen, As- sistenzkräf te aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die fortgebildet wurden für die Tätigkeit hier, freiwillige Sozialdienstleistende, hauswirtschaf tliche Gruppenhilfen, Putzkräf te (zunehmend als Leiharbeiter*innen von Fremdfirmen), Verwaltungsange- stellte, Mitarbeitende der Regiebetriebe (Hausmeisterei, Wäscherei, Großküche …) etc. Die Anfänge Als ich mich damals entschieden habe, meine Lehre als Kfz-Mechaniker abzubre- chen, fand ich es schön, mich in der Behindertenhilfe auf die verschiedenen Welten der Menschen mit geistigen Behinderungen einzulassen, zu erfahren, wo sie herkom- men, wer sie sind, wohin sie wollen und ihnen – immerhin versuchsweise – eine Hei- mat zu bieten. Die Ansprüche an meine eigene Tätigkeit sind für mich dann ein Stück weit erst aus der Arbeit selbst erwachsen und aus der Zusammenarbeit mit den Perso- nen, die mir hier begegnet sind und die für mich ganz anders waren als das Personen- feld, das ich zuvor in dem Wirtschaf tsbetrieb der Automechanik kennengelernt hatte. Die e Th men sprachen mich persönlich viel mehr an: So etwas wie Selbstref lexion oder die Frage nach dem Sinn – das waren Felder, mit denen ich mich selbst persönlich viel besser verbinden, an die ich gut anknüpfen konnte. Durch die Gespräche konnte ich viele neue Perspektiven dazugewinnen, wie man auf die Welt sieht, sowohl von mei- nen Kolleg*innen, aber vor allem auch von den Menschen mit Behinderungen, wo mir eine große Vielfalt an Gefühlsleben und Facetten des Menschseins begegnet ist, die für meinen Lebensweg eine sehr elementare Bedeutung gewonnen haben. Ich würde heute rückblickend sagen, dass es mir vor 43 Jahren, als ich hier anfing, noch sehr viel leichter e fi l, mich mit dieser Arbeit in der Behindertenhilfe zu identi - 2 Außenwohngruppen sind im Gegensatz zu stationären Gruppen dörf lich oder städtisch integriert. Im Gegensatz zum betreuten Wohnen, wo nur partiell unterstützende Kräf te vor Ort sind, ist in Außen - wohngruppen dauernd Personal vor Ort. B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 55 fizieren. Das hat vor allem damit zu tun, dass es früher noch etwas gab, was ich als konstruktive Streitkultur bezeichnen würde. Wir haben damals – ganz gleich in wel- chem Bereich der Einrichtung, ob auf den Wohngruppen, in den Regiebetrieben oder der Verwaltung – noch die Einstellung geteilt, dass die Lösung einer Problemlage ei- ner einzelnen Bewohner*in oder aber auch einer ganzen Wohngruppe nur zu finden ist, wenn wir uns darüber austauschen, d.h. die Vielfalt der Meinungen zusammen- tragen und aus diesem Gesamtwerk dasjenige herausziehen, was möglich ist und wo- rin sich alle wiederfinden, um gemeinsam einen Entschluss zu finden zugunsten der positiven Lebensqualität aller und jeder*s Einzelnen. Natürlich gab es da sehr viele Auseinandersetzungen. Diese konstruktive Streitkultur war anstrengend, aber auch extrem wichtig. Sie wurde im Verlaufe der Jahre immer weiter abgekürzt und verengt: Es gab weniger Besprechungen, der Kreis der Gesprächsteilnehmer*innen wurde im- mer enger gefasst, immer weniger Betreuer*innen hatten daran Anteil. Früher hatten und die Gruppenmitarbeiter*innen, deren Vorgesetzte, die Bezugsbetreuer*innen Angehörigen der Bewohner*innen an einem sehr großen Tisch Anteil an den Entwick- lungsgesprächen , auf deren Grundlage dann Pläne erstellt werden konnten für ein weiteres Vorgehen, das bestenfalls mit allen abgestimmt war. Diesen Aufwand spart man sich heute. Zur Behebung schwieriger Lebenssituationen hatte man damals au- ßerdem den geschichtlichen Hintergrund der jeweiligen Bewohner*innen stark be- rücksichtigt, deren soziale, familiäre und regionale Herkunf t. Vor etwa zehn Jahren jedoch hat man entschieden, dass nur noch die letzten drei Jahre der Biographie in der Dokumentation der Bewohner*innen hinterlegt sein sollen. Peu à peu begann man, den Menschen nicht mehr als Ganzes zu sehen, sondern nur noch die Probleme in den Blick zu nehmen und alles andere wegzukürzen. Auch die Angehörigen wurden aus den Gesprächen herausgenommen und haben heute einen separaten Angehörigenrat, der kaum oder selten überhaupt in eine konkrete Einmischung in unseren Arbeitsall- tag mündet. Mitarbeiter*innen auf Wohngruppen werden explizit dazu angehalten, sich über Schwierigkeiten auf den Wohngruppen nicht mit den entsprechenden Ange- hörigen auszutauschen. Besonders brenzlig kann es werden, wenn interne Daten wei- tergegeben werden. Arbeitsrecht der Kirchen Auf meinem persönlichen Weg in die Behindertenhilfe gab es auch Vorbilder für mich – beispielsweise ein ehemaliger Gruppenleiter namens K., der mich sehr faszinier- te. Er hatte eine sehr ruhige und gelassene, argumentative und souveräne Weise, sich mit Dingen auseinanderzusetzen und konnte Verhaltensweisen von Bewohner*innen sehr gut ergründen und für andere Mitarbeitende verständlich übersetzen, sodass man 3 Als Bezugsbetreuer*in wird in der Sozialpädagogik, der  Psychiatrie  sowie  der Sonder- und  Heilpäd- agogik eine besondere Beziehungs- und Bindungsg fi ur bezeichnet, die den Entwicklungsverlauf der hilfebedürf tigen Person intensiv begleitet. 4 Entwicklungsgespräche sind regelmäßige Gespräche, die im Rahmen eines erfolgreichen Betreu - ungs-, Bildungs- und Erziehungsverhältnisses womöglich gemeinsam mit der hilfebedürf tigen Per- son stattn fi den, um Beobachtungen und Zielsetzungen der Persönlichkeitsentwicklung abzuspre - chen. 56 Helen Akin im Gespr äch mit B� stets auch Rückschlüsse auf sich selbst und das eigene Verhalten ziehen konnte. K. hat nicht nur die Arbeit mit den Bewohner*innen, sondern auch die mit den Kolleg*innen immer mit großer Ernsthaf tigkeit verfolgt und sich mit viel Engagement für sie einge- setzt. Damals gab es beispielsweise die Diskussionen um den im Arbeitsrecht der Kir- chen sogenannten Dritten Weg. Der Dritte Weg ist ein kirchliches System zur Aushand- lung von Arbeitsvertragsbedingungen. Es ging darum, sich auch im kirchlichen Dienst eine Vertretung zu organisieren für die Interessen der Arbeitnehmer*innen, während die Gegenposition die Autonomie der Kirche verteidigte und eine zusätzliche gewerk- schaf tliche Vertretung nicht für nötig erachtete. Die Einigung des Dritten Weges lau- tete, dass man interne Mitarbeitervertretungen ermöglichte, jedoch das Stimmrecht im Schlichtungsausschuss nicht paritätisch verteilte, sondern immer ein zusätzliches Stimmrecht für die Arbeitgeber*innen vorsah. K. war einer der Sprecher und voran- treibenden Kräf te der gewerkschaf tlichen Organisation, der maßgeblich zum Gegen- gewicht auf der Arbeiternehmerseite gegen die Arbeitgeber*innen beitragen wollte und beigetragen hat. Letztlich siegte dennoch der Dritte Weg und verhinderte die Or- ganisation einer von der Kirche autonomen Gewerkschaf t – ein Dilemma, das bis heu- te anhält. In verschiedenen öf fentlichen Bereichen gibt es natürlich inzwischen Tarif- abschlüsse, die sich die Kirche zum Vorbild nimmt – doch in der Zwischenzeit isoliert sich die Kirche erneut und sucht Nischen, um den Beschlüssen der Gewerkschaf t Öf fent- liche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) auszuweichen. Der Konf likt des Dritten Weges währt also fort, aber nicht mehr in der Brisanz und der Deutlichkeit wie damals. Einstellungen und Typen von Sozialarbeiter*innen Neben den Personen, die für mich prägende Gestalten waren, begegnete ich in meiner Arbeit auch immer wieder Kolleg*innen, deren Arbeitseinstellung ich mit der Zeit im- mer leichter einschätzen und kategorisieren konnte. Beispielsweise traten damals wie heute häufig Personen die Arbeit mit einer Art christlichem Helfersyndrom an: Sie er - weisen sich als überengagiert und opfern sich für ihre eigenen Ideale auf. Ihr Überen- gagement bringt sie an die Grenzen der Belastbarkeit und in ein Hamsterrad auf der Suche nach Verwirklichung ihrer Ideale oder auch nach Anerkennung. Nach Letzterer sehnen sich of t Personen, welche die soziale Arbeit als Flucht oder Kompensation eige- ner psychischer oder sozialer Probleme instrumentalisieren. Ich möchte aber keines- wegs die christliche Motivation per se problematisieren: Auch sie kann meines Erach- tens mit einem sehr fortschrittlichen Menschenbild einhergehen, das besonders auf die individuelle Lebenssituation oder beispielsweise auch die körperlichen und seeli- schen Bedürfnisse einer Person achtet und auch mit schwierigen Verhaltensweisen – Aggressionen oder besonderen sexuellen Neigungen – respektvoll umgeht. Dann gibt es leider auch solche Typen, die die alltägliche Abhängigkeit und Hilfe- bedürf tigkeit von Menschen, mit denen man hier arbeitet, autoritär »lösen« und einen Genuss beim Ausleben von Autorität und Verfügungsgewalt empfinden. Für diese For - 5 Der dritte Weg ist ein kirchliches System zur Aushandlung von Arbeitsvertragsbedingungen, das sich aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ergibt und einen Kompromiss darstellt zwischen der Autonomie der Arbeitgeber*innen hinsichtlich der Arbeitsplatz- gestaltung einerseits und autonomen Tarif verhandlungen der Arbeitnehmer*innen andererseits. B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 57 men des Machtmissbrauchs gilt es, sich selbst und den Kolleg*innen gegenüber stets höchst sensibel zu sein. Die*r Andere ist dann nicht länger der Grund und die Motiva - tion der Arbeit, sondern das eigene Ego. Zudem gibt es den Typus des Blenders, der eigentlich nicht sehr viel Mühe und Kraf t einbringt, aber bemerkt hat, dass sich mithilfe von Artikulation und Selbstdar- stellung eine gute Karriere in sozialen Einrichtungen machen lässt. Als Blendwerk werden hier nicht bedeutende wirtschaf tliche Leistungen, sondern eine Art soziales Prestige zur Schau gestellt. Meiner Erfahrung nach sind es of tmals Personen, die aus anderen Berufsfeldern quereinsteigen, die weder solchem Blendwerk noch den christlichen Verklärungen der Arbeit anheimfallen und ihre Aufgabe mit großem Engagement erfüllen. Diese wissen dann einerseits um den Reiz der Arbeit mit Menschen, da sie vielleicht die andere, leis- tungsorientierte Seite der Gesellschaf t ebenfalls kennengelernt haben. Andererseits ist ihre Grundeinstellung realitätsgerechter. Die (un-)mögliche Grenze zwischen Privatleben und Arbeit Ich weiß, dass die soziale Arbeit ein prädestinierter Bereich für Symptomatiken wie Burnout ist, da die Arbeit emotional und moralisch stark auf das private Leben über- greifen kann. Andererseits ist es wichtig, sich eben auf diese Verbindung einzulassen und nicht stur dagegenzuhalten und sich selbst davon überzeugen zu wollen, dass mit dem Feierabend die Arbeit keine Rolle mehr zu spielen hat. Natürlich denkt man über manche e Th men länger nach und es gehen einem Dinge nah. In meinem Berufsleben gab es auch sehr harte Auseinandersetzungen und Situationen, in denen ich an mei- ne persönlichen Grenzen kam. Dass ich diese Dinge auch mit nach Hause genommen habe, hat für mich persönlich jedoch nie dazu geführt, dass ich in Unfrieden mit mir selbst geraten wäre. Und ab und an habe ich sicherlich selbst auch grenzüberschrei- tende Fehler begangen – es kann sich niemand wirklich von Machtdynamiken frei- sprechen in dieser Arbeit und von Fehlentscheidungen, in denen man das Wohl Ein- zelner gegen beispielsweise eine potentielle Gefährdung der Gemeinschaf t abwägen muss. Diese Situationen bedürfen jeden Tag eine neue Auslegung und Neubewertung der daran beteiligten Faktoren. Dafür braucht es aber den beständigen Dialog und die wechselseitige Beobachtung und Rückmeldung im Team mit den Kolleg*innen: In Si- tuationen von krassem Personalmangel gibt es diese wechselseitige Möglichkeit, als Korrektiv zu dienen, nicht mehr und das ist gefährlich. Man braucht eine konstruktive Gesprächsatmosphäre, in der vehemente, lösungsorientierte Auseinandersetzungen möglich und jeder zur Selbstkritik fähig ist. Aus einem solchen Klima heraus erwächst Freude und Engagement für die Arbeit und diese übertragen sich unmittelbar auf die Bewohner*innen der Einrichtung, die in diesen guten Zeiten eine auch sichtlich po- sitive Ausstrahlung innehaben. Es gibt in Wohngemeinschaf ten eine ganz intensive Gruppendynamik, die sich sehen und fühlen lässt und abhängig ist vom Beitrag und dem Wohlergehen jeder einzelnen Teilnehmer*in. Herrscht Unmut und Langeweile im Mitarbeiter*innenteam und verziehen sich alle ins Büro, anstatt aktiv in den Ge- meinschaf tsräumen Präsenz zu zeigen und am Alltagsleben der Bewohner*innen zu partizipieren, überträgt sich diese Schläfrigkeit und Vereinzelung auch auf die an- deren. Seit Jahren nimmt jedoch der Dokumentationsaufwand der Arbeit zu und die 58 Helen Akin im Gespr äch mit B� Aufenthalte in den Büroräumlichkeiten verlängern sich – früher hingegen waren Kü- che, Wohnzimmer oder Balkon die hauptsächlichen Aufenthaltsorte. Die Transformation der Arbeitsbedingungen Ich möchte hier noch einmal anknüpfen an das oben Gesagte über die konstruktive Streitkultur. Dazu gehörten auch Abteilungsbesprechungen mit allen Fachkräf ten der Wohngruppen, die Interesse hatten, und zuständigen Abteilungsleiter*innen über ak- tuelle Probleme – bis zu 30 Personen in einer großen Runde, in der alle Vorschläge und Bedenken von allen Personen eingebracht und für alle protokolliert wurden. Auch hier fanden Kürzungen statt: Die Fachkräf te wurden irgendwann nicht mehr eingela- den und statt der Gruppenleiter*innen wurden vor etwa vier Jahren Teamkoordina- tor*innen eingesetzt, die drei bis vier Gruppenleiter*innen ersetzen sollten. Personell und inhaltlich wurden diese Besprechungen so stark ausgedünnt, dass es irgendwann weder Diskussion noch Austausch mehr war, sondern lediglich ein In-Empfang-Neh- men von Erlassen der Leitungsebene, die dann in Befehlsform an die Mitarbeiter*in- nen der Wohngruppe weitergereicht wurden. Die Teamkoordinator*innen selbst je- doch haben am Arbeitsalltag auf den Wohngruppen meist keinen Anteil und sind nicht in Kontakt mit denjenigen Menschen mit Behinderung, die am Ende von den neuen Regeln betrof fen sind. Diese Form der Entscheidungsstruktur von oben herab ist letzt- lich entwürdigend – sowohl für das Personal, das am nächsten mit den Bewohner*in- nen der Einrichtung zusammenarbeitet, wie auch für die Bewohner*innen selbst. Als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin, die oder der all seine oder ihre Beobachtungen und Erfahrungen darauf ausrichtet, das Sprachrohr von Personen zu sein, die selbst nur eingeschränkt oder überhaupt nicht ihre Anliegen verbalisieren können, schaf f t das Unmut. Man verliert jede Möglichkeit der Mitbestimmung und fühlt sich instrumen- talisiert. Darauf wird unterschiedlich reagiert. Einerseits gibt es eine Welle an Kündi- gungen, andererseits finden Mitarbeiter*innen auch einen Weg, innerlich zu kündigen und nur noch Dienst nach Vorschr if t zu machen, ohne sich weiter für die Arbeit zu en- gagieren. Beschwerden können zwar in Schrif tform an die Leitungsebene an eine be- stimmte Stelle geschickt werden, aber ich persönlich habe nie eine Antwort auf mei- ne Briefe erhalten. Die Ausbildung zum*r Heilerziehungspfleger*in: »Alles ein wenig, aber nichts richtig« Meinen Beobachtungen nach gab es parallel zu den Entwicklungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ähnliche Entwicklungen in den Ausbildungsstätten der Heilerziehungspf lege. Als ich damals die Ausbildung zum Heilerziehungspf leger machte, gab es drei Grundfragen der Orientierung für die Sorge um den Menschen mit Behinderung: Woher kommt dieser Mensch? Wo steht er? Wohin möchte er? Der biogra- phische Hintergrund des Menschen und sein gegenwärtiger Stand im Leben – seine Vorlieben, Neigungen, Bedürfnisse – wurden bei allen Vorhaben und Zielsetzungen berücksichtigt. Diese Fragen bilden eine Art Modell für den Bezugsauf bau mit ei- nem Menschen. Nur wer diese Fragen berücksichtigt, kann einen Menschen in seiner B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 59 Ganzheit kennenlernen und eine Beziehung mit ihr*m begründen. Heute jedoch wird – das entnehme ich meinen Gesprächen mit Auszubildenden – auf die Beziehungsbil- dung immer weniger und auf die Austauschbarkeit immer mehr Wert gelegt. Als gute Heilerziehungspf legerin oder guter Heilerziehungspf leger gilt heute jemand, der sich leicht von A nach B schicken lässt, in sehr kurzer Zeit den Ist-Stand eines Menschen aufnimmt und nach diesem Ist-Stand den Menschen betrachtet. Diese*r gute Heiler- ziehungspf leger*in muss sich ein wenig in Pf legedingen auskennen, ein wenig in Be- treuungsarbeit, ein wenig in medizinischen Belangen. Und bei all diesen Bereichen ist das Entscheidende: nur ein Wenig. Es ist nicht mehr erwünscht, dass man sich hinein- kniet in eine neue Welt; stattdessen soll man nur einen oberf lächlichen Blick hinein- werfen. Das frustriert die Schüler*innen. Sie werden wunderbar passgerecht vorge- formt auf die Flexibilität, die heute auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Wer sich hingegen so gut mit der Bedürfniswelt der Personen auskennt, für die er oder sie arbei- tet, dass er f ür sie argumentieren und einstehen kann, fällt als anstrengend negativ auf. Früher – vor den Selbstbestimmungsbestrebungen der Betrof fenen in den 60ern und 70ern – gab es das pf legerische Ideal des sat t und sauber: Der Mensch mit Behinde- rung sollte hauptsächlich ausreichend mit Kleidung und Essen versorgt sein und un- ter saubereren Bedingungen leben. Dann gab es zu meiner Anfangszeit in den 80ern die von mir oben geschilderte Bestrebung, die Lebensqualität von Menschen mit Be- hinderung in das Zentrum der Arbeit zu rücken: Ihre Lebensqualität – das bedeutet ihr Glück, ihre Sehnsucht nach Heimat und Gemeinschaf t, ihr Vertrauen in sich selbst und das Leben. Aber heute sind wir wieder zurückgeschritten zum Grundsatz: sat t und sauber. Mit einem Unterschied: sat t und sauber und dokument ier t. Das Dokumentieren dient dabei häufig nur als Aushängeschild, um den Anschein zu erwecken, man hätte sich tatsächlich um die Lebensqualität der Bewohner*innen gekümmert und sie posi- tiv begleitet. Kreuzchen werden bef lissentlich in die Dokumente eingetragen, während die jeweilige Tätigkeit tatsächlich gar nicht praktiziert wurde. Man bemüht sich dar- um – vor allen Dingen gegenüber den Geldgeber*innen – den Anschein von Engage- ment aufrechtzuerhalten. Für die Menschen mit Behinderung, die hier leben, hat das ganz unterschiedliche psychische und soziale Konsequenzen. Manche ziehen sich sehr in sich selbst zurück, isolieren sich, entwickeln Gewohnheiten, die für Außenstehende absurd erscheinen, aber innerlich Halt bieten. Im Rahmen der Debatten um Inklusion wird mit Recht häufig auf das e Th ma der räumlichen Separierung abgehoben. Natürlich ist es wichtig, dass die Bewohner*in- nen aus ihrer Wohneinrichtung herauskommen, am ländlichen und städtischen Le- ben partizipieren, Freizeiten und Reisen wahrnehmen – auch diese Aspekte gehören zur oben erwähnten Lebensqualität. In den letzten Jahren wurden Gruppenausf lüge für uns aufgrund von Sparmaßnahmen immer weiter eingeschränkt. Auf der anderen Seite brauchen diese Menschen, mit denen ich arbeite, aber ebenso sehr einen festen – räumlichen und innerlichen – Ausgangspunkt und eine gefestigte Wahrnehmung und Sicherheit, wenn es darum geht, wer sie selbst sind. Eine lediglich räumliche Zusam- menführung der sogenannten Normalgesellschaf t und der Menschen mit Behinde- rung allein schaf f t keine Inklusion. Für die Inklusion ist Gespräch, Arbeit und Ref le- xion vonnöten, und zwar sowohl auf der Seite der sogenannten nor malen Menschen wie auch auf der Seite des Menschen mit Behinderung. Im Laufe meiner Arbeit haben sich die Begrif fe zur Bezeichnung von Hilfeformen und Tätigkeitsfeldern immer wie- der verändert, während die Sachlage zugleich meist unverändert blieb. Für mich und 60 Helen Akin im Gespr äch mit B� die Bewohner*innen hat diese Fachsprache keinerlei Bedeutung – sie dient vielmehr dem Blendwerk der Behindertenhilfe, mit dem man sich nach außen hin gut präsen- tieren kann. Wie kann man dagegenhalten? In meiner Arbeit habe ich immer versucht – vor allem in den Gesprächen mit neuen Mitarbeiter*innen – zu vermitteln, was für mich diese Arbeit ausmacht, und ich glau- be, das ist mir auch häufig gelungen, da es sich dabei nicht nur um theoretische Fragen handelt: Man kann meine Beziehung zu den Bewohner*innen der Wohngruppe sehen und den Umgang, den wir miteinander pf legen, die Empathie, die wir wechselseitig für unsere Lebenssituation auf bringen. Das hat auf viele Menschen einen Eindruck gemacht, der ihnen sehr gefallen hat und mir auch so zurückgemeldet wurde. Ich rate ihnen dann vor allen Dingen eines: »Lasst Euch von diesem System nicht auf fressen!« Solange sie darauf Acht geben, dass sie selbst nicht krank werden, sollen sie an ihren Werten und Ref lexionen festhalten und das Wohl der Menschen mit Behinde- rung im Blick behalten. Wenn ich eine Gewissheit habe, ist das, dass kein Mensch auf der Welt das Bestreben hegt, unglücklich zu sein. Wann immer man bei einem Men- schen, der einen umgibt, ein Zeichen vernimmt, dass dieser unglücklich ist, muss man die Gründe dafür herausfinden. Wenn man aber ab irgendeinem Zeitpunkt diese Ar - beit nur noch wahrnehmen kann als das Mittel, um sein Geld zu verdienen, sollte man es sein lassen, denn damit macht man sowohl sich selbst als auch die anderen Men- schen krank. Behinderung ist niemals nur ein Defizit, sondern geht immer mit elementaren po - sitiven Eigenschaf ten und Besonderheiten einher. Wenn man heute eine*n Mitarbei- ter*in einer Pf legeeinrichtung um eine Beschreibung einer Person mit Behinderung bittet, wird diese in den meisten Fällen sehr viele negative Verhaltensweisen beschrei- ben – »A. hat Schwierigkeiten, selbstständig zu essen, A. kann nicht selbstständig zur Toilette gehen, A. fällt es schwer, sich in die Gemeinschaf t zu integrieren etc. etc.« –, während die Fähigkeiten und positiven Seiten meist völlig vernachlässigt werden. Um diese positiven Beschreibungen zu sammeln, braucht es eine Vielfalt von Men- schen, mit denen man sein eigenes Bild von dieser Person und seine Beobachtungen austauschen kann. Zudem bedarf es der ständigen Lernbereitschaf t. Und die eigene Persönlichkeit und Weltanschauung muss in die Tätigkeit einbezogen werden. Wäh- rend meiner Ausbildung hatte ich beispielsweise einen Lehrer, der genau diese Eigen- schaf t gefördert und uns immer dazu angeregt hat, mit ihm auf eine Reise zu gehen in unser eigenes Inneres, indem er Fragen stellte, die uns dazu nötigten, in uns selbst zu gehen und über uns selbst nachzudenken und eine Übertragung dieser Erkenntnisse auf die eigene pädagogische Arbeit zu versuchen. Ich glaube, dass sich gesamtgesellschaf tlich betrachtet die Einstellung gegen- über Behinderungen ins Positive verändert hat. Menschen mit Körperbehinderun- gen beispielsweise – so mein Eindruck – sind in den letzten Jahren sehr viel souverä- ner, selbstbestimmter und sichtbarer geworden. Das ist toll. Ich würde mir wünschen, dass den Menschen mit einer geistigen Behinderung die gleiche Aufmerksamkeit zu- kommt und dieselben Foren geöf fnet werden, ohne hier neue Priorisierungen und Hierarchisierungen – beispielsweise nach Grad der Behinderung, nach Leistungsfä- B ehinder ungen – das sind Facet ten und Möglichkeiten des Mens chs eins 61 higkeit oder nach Alter – einzuführen. Dies ist nur möglich – vor allem wo schwere geistige Beeinträchtigungen und Sprachbehinderungen vorliegen –, wenn das engs- te Umfeld der Familie und das pf legerische Personal als Sprachrohr miteinbezogen werden. Mein Anliegen ist es, in meinem Beruf als ein Anwalt für die Bedürfnisse und Anliegen dieser Personen einzutreten, die dies aus unterschiedlichen Gründen nicht selbstständig vermögen. Dieses Anliegen wurde mir zuletzt zunehmend erschwert, weswegen das Gefühl einer Machtlosigkeit in mir wuchs. Selbst für die Personen, die ich seit nunmehr 43 Jahren durch meinen Beruf kenne, für die und mit denen ich ge- arbeitet habe, wird mir immer mehr die Möglichkeit genommen, ihre Interessen zu vertreten. Auf diese Interessenvertretung aber sind sie existenziell angewiesen und ansonsten den Entscheidungen von Geldgeber*innen und Verwaltungsangestellten ausgeliefert, die ihnen völlig fremd sind. Zur Übernahme einer solchen Anwaltschaf t würde ich junge Auszubildende der Heilerziehungspf lege gerne motivieren.« B. ist 63 Jahre alt und seit 43 Jahren als Heilerziehungspf leger für Menschen mit Behin- derungen tätig. Er hat vier Kinder, darunter einen schwer mehrfach behinderten er- wachsenen Sohn. B. ist wohnhaf t im Schwabenland, Baden-Württemberg.

Journal

Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gesprächde Gruyter

Published: Apr 1, 2022

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