Get 20M+ Full-Text Papers For Less Than $1.50/day. Start a 14-Day Trial for You or Your Team.

Learn More →

Die Bibliothek im Jahr 2040

Die Bibliothek im Jahr 2040 IIch habe vor langer Zeit schon einmal eine Vision von der Bibliothek der Zukunft geschrieben, die damals genau auf das jetzige Datum abzielte, also das Jahr 2022.AKMB-News (2012). Diese Vision stand unter dem Eindruck der Digitalisierung, die in den Bibliotheken stärker „gewütet“ hatte als in den meisten anderen Kulturinstitutionen. Mir scheint zwar, dass die dort gemachten Voraussagen nicht falsch waren, dass aber die Geschichte doch nicht ganz so schnell voranschreitet wie damals vermutet. Denn frei nach Bill Gates (oder wer war es?): Technische Entwicklungen werden kurzfristig über- und langfristig unterschätzt. Daher verzichte ich hier auf die Vision, beschränke mich auf eine eher trockene Beschreibung und versuche, daraus einige Konsequenzen zu ziehen. Ohne Risiko ist das natürlich trotzdem nicht.IIWenn ich im Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek nach „Goethe“ suche, liefert mir das System über 36 000 Aufsätze. Davon sind knapp 12 000 online, also etwa ein Drittel. Gegenprobe mit Michelangelo, da sind es 68 000 gegenüber 34 000, also in diesem Fall kann genau die Hälfte über das Netz eingesehen werden. Erinnern wir uns an das, was in dem Feld in den letzten 20 Jahren passiert ist und mit welcher Dynamik dies abgelaufen ist, dann werden die nächsten 20 Jahre wohl eine weitere Beschleunigung in der Medientransformation hervorbringen. Ich schätze mal, dass dann nicht mehr ein Drittel bzw. die Hälfte, sondern zwei Drittel bis drei Viertel der Recherche-Ergebnisse auf Online-Publikationen verweisen, vielleicht auch noch mehr. Okay, bei Aufsatzpublikationen ist der Trend entschieden deutlicher als bei Monografien, aber ich gehe davon aus, dass auch bei Letzteren über kurz oder lang nachgezogen wird. Viele Verlage haben längst erkannt, dass sie auch in diesem Feld ihren Reibach machen können. In Parenthese: Gerade aufgrund der Kostenintensität der digitalen Verfahrensweisen droht hier eine weitergehende Monopolisierung der Anbieterlandschaft, die ja ansonsten schon seit längerem voranschreitet. Die bange Frage, die sich ergibt: Wofür brauchen wir denn dann eigentlich noch die physische Bibliothek, wenn doch alles bequem am heimischen Schreibtisch zu konsumieren ist?IIIDie Frage treibt Bibliothekare und andere seit vielen Jahren um. Eine der Konsequenzen ist neueren Bibliotheken auch schon anzusehen. In ihnen dominieren nicht mehr so stark die Bücher, vielmehr scheinen sie sich immer mehr in soziale Räume zu verwandeln, in denen Menschen agieren und interagieren, die gar nicht einmal nur mit dem Lesen, sondern mit allen möglichen anderen Aktivitäten beschäftigt sind. So gesehen wäre die Gefahr gebannt, Bibliotheken entwickeln sich zu Kulturzentren, die eine wichtige Funktion im Prozess der Vergemeinschaftung übernehmen und erfüllen damit in geradezu idealtypischer Weise auch die Funktion eines „dritten Ortes“. Und in der Tat, in den letzten Jahren sind einige spektakuläre Bibliotheksbauten entstanden, die dieser Funktion entsprechen könnten. Und diese werden intensiver genutzt als je zuvor.Allerdings kann man es auch anders sehen. Aus England habe ich schon vor Jahren gehört, dass dort der Aufbau von „iconic libraries“ auf Kosten all der kleineren Stadtteilbibliotheken ging, die reihenweise geschlossen wurden. Das wäre statistisch zu konkretisieren, was ich nicht leisten kann. Als vor 10 Jahren die New York Public Library radikal umgebaut werden sollte, protestierten Intellektuelle weltweit gegen die Entfernung vieler Bücher aus den Kellergeschossen und wandten sich gegen eine (angebliche) Verwandlung des Geisteszentrums in eine Sozialstation.Vgl. etwa https://www.deutschlandfunk.de/new-york-publik-library-und-der-schritt-in-die-zukunft-100.html. Bei den absehbaren finanziellen Langzeitfolgen von Pandemie und Krieg dürfte im Übrigen angesichts weltweit steigender Schuldenstände der Spielraum zukünftig auch eher kleiner werden und das gilt auch noch über das Jahr 2040 hinaus. Da wird man sich noch andere Gedanken über den Sinn von Bibliotheken machen müssen.Meine kurzen Überlegungen gehen im Folgenden von einer Eigenheit der digitalen Medien aus, die in meinen Augen auch in anderen mit der Digitalisierung beschäftigten Kulturinstitutionen noch zu wenig berücksichtigt wird, z. B. in den Museen, aber auch den Universitäten. Diese digitalen Medien nämlich sind fluide, sie stehen nicht wie ein Ding im Regal, hängen an der Wand oder werden vom Podium herab verkündet, sondern schreien geradezu nach Bearbeitung und Überformung. Interaktivität wäre der Begriff, der hierfür im Digitalen gewöhnlich verwendet wird. Für die Bibliotheken heißt das, dass ihre Inhalte – also Bücher, aber auch visuelle und Audioartefakte – nicht mehr nur lesend und anderweitig konsumiert, sondern bearbeitet, kommentiert und verändert werden.IVIch stelle mir vor, dass im Jahr 2040 viele Bibliotheken Angebote machen, um diese Tätigkeiten zu organisieren. Auf umfangreichen Crowdsourcing-Seiten wird man Bücher, Bilder, Musikstücke annotieren, kommentieren, weiterschreiben und kritisieren. Schon jetzt gibt es im Internet eine Reihe von Angeboten, auf denen zuweilen Hunderttausende von meist Jugendlichen auf originelle Weise lesend und schreibend aktiv sind und sich dabei durchaus von klassischen Autor*innen faszinieren lassen.Vgl. hierzu vor allem Lauer (2020). Warum nicht als Bibliotheksangebot? KI-gesteuerte Programme werden die Suche nach ähnlichen Texten und Bildern ermöglichen und neue Analytiken zur Verfügung stellen. Man kennt das aus Recommender-Systemen, aber auch im Bildungsbereich werden solche Angebote ihre Wirkung entfalten, dabei allerdings auch klassische bibliothekarische Kategorisierungsaufgaben überflüssig machen. Mit komplexer Editions-Software wird es möglich, kooperativ individuelle Veröffentlichungsangebote zusammenzustellen. Programme wie omekawww.omeka.org. erlauben das gemeinschaftliche Erstellen von Ausstellungen im Netz. Und all das dürfte nur der Anfang sein. Solche Angebote wird man von zuhause aus bearbeiten können, aber da, wo es weniger um rezeptives (wie beim Lesen) als um produzierendes Verhalten geht, zeigt die Erfahrung, dass hier meist Gruppenaktivität in real life gewünscht ist, die besser in der Bibliothek selbst zu realisieren ist. Das zieht allerlei Konsequenzen nach sich: Neben die Räume der Stille treten vermehrt Räume des Austausches. Die Bibliothek wird tendenziell zu Museum, zu Schule und Universität, darüber hinaus aber auch zu etwas, das von Rechenzentren nicht mehr so deutlich zu unterscheiden ist.VWie gesagt, das Problem ist kein exklusiv bibliothekarisches, es betrifft auch andere Institutionen. Die Museen täten gut daran, das Internet nicht nur für eine tendenziell langweilige Verlängerung oder virtuelle Verdoppelung der analogen Bestände zu nutzen, sondern diese Bestände im Netz von den Besuchern vielfältig überformen zu lassen, z. B. auch Spielmöglichkeiten zu eröffnen. In den Universitäten macht es keinen Sinn, alte Lehrformate einfach ins Netz zu übertragen. Hier spricht man z. B. von „blended learning“, bei dem die virtuelle Lehrveranstaltung weitgehend für Interventionen der Studierenden genutzt wird, die sich den Stoff schon vorher zu eigen gemacht haben.Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2040 einiges von diesen Perspektiven verwirklicht haben werden. Dabei beruht meine Vermutung, dass sich hierfür die physische Bibliothek anbietet, die dann vielleicht gar nicht mehr so heißen wird, auf der Hoffnung, dass körperliche Anwesenheit in kollaborativen Arbeitsumgebungen unverzichtbar ist, dass alles Digitale auf das Physische zurückverweist und dieses nicht restlos ersetzt. Sicher bin ich mir mit dieser Hoffnung nicht. Aber dann wäre es ja auch keine Hoffnung mehr, sondern Gewissheit. http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png BIBLIOTHEK Forschung und Praxis de Gruyter

Die Bibliothek im Jahr 2040

BIBLIOTHEK Forschung und Praxis , Volume 47 (1): 3 – Apr 30, 2023

Loading next page...
 
/lp/de-gruyter/die-bibliothek-im-jahr-2040-mMniXeVCUQ

References

References for this paper are not available at this time. We will be adding them shortly, thank you for your patience.

Publisher
de Gruyter
Copyright
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
ISSN
1865-7648
eISSN
1865-7648
DOI
10.1515/bfp-2022-0062
Publisher site
See Article on Publisher Site

Abstract

IIch habe vor langer Zeit schon einmal eine Vision von der Bibliothek der Zukunft geschrieben, die damals genau auf das jetzige Datum abzielte, also das Jahr 2022.AKMB-News (2012). Diese Vision stand unter dem Eindruck der Digitalisierung, die in den Bibliotheken stärker „gewütet“ hatte als in den meisten anderen Kulturinstitutionen. Mir scheint zwar, dass die dort gemachten Voraussagen nicht falsch waren, dass aber die Geschichte doch nicht ganz so schnell voranschreitet wie damals vermutet. Denn frei nach Bill Gates (oder wer war es?): Technische Entwicklungen werden kurzfristig über- und langfristig unterschätzt. Daher verzichte ich hier auf die Vision, beschränke mich auf eine eher trockene Beschreibung und versuche, daraus einige Konsequenzen zu ziehen. Ohne Risiko ist das natürlich trotzdem nicht.IIWenn ich im Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek nach „Goethe“ suche, liefert mir das System über 36 000 Aufsätze. Davon sind knapp 12 000 online, also etwa ein Drittel. Gegenprobe mit Michelangelo, da sind es 68 000 gegenüber 34 000, also in diesem Fall kann genau die Hälfte über das Netz eingesehen werden. Erinnern wir uns an das, was in dem Feld in den letzten 20 Jahren passiert ist und mit welcher Dynamik dies abgelaufen ist, dann werden die nächsten 20 Jahre wohl eine weitere Beschleunigung in der Medientransformation hervorbringen. Ich schätze mal, dass dann nicht mehr ein Drittel bzw. die Hälfte, sondern zwei Drittel bis drei Viertel der Recherche-Ergebnisse auf Online-Publikationen verweisen, vielleicht auch noch mehr. Okay, bei Aufsatzpublikationen ist der Trend entschieden deutlicher als bei Monografien, aber ich gehe davon aus, dass auch bei Letzteren über kurz oder lang nachgezogen wird. Viele Verlage haben längst erkannt, dass sie auch in diesem Feld ihren Reibach machen können. In Parenthese: Gerade aufgrund der Kostenintensität der digitalen Verfahrensweisen droht hier eine weitergehende Monopolisierung der Anbieterlandschaft, die ja ansonsten schon seit längerem voranschreitet. Die bange Frage, die sich ergibt: Wofür brauchen wir denn dann eigentlich noch die physische Bibliothek, wenn doch alles bequem am heimischen Schreibtisch zu konsumieren ist?IIIDie Frage treibt Bibliothekare und andere seit vielen Jahren um. Eine der Konsequenzen ist neueren Bibliotheken auch schon anzusehen. In ihnen dominieren nicht mehr so stark die Bücher, vielmehr scheinen sie sich immer mehr in soziale Räume zu verwandeln, in denen Menschen agieren und interagieren, die gar nicht einmal nur mit dem Lesen, sondern mit allen möglichen anderen Aktivitäten beschäftigt sind. So gesehen wäre die Gefahr gebannt, Bibliotheken entwickeln sich zu Kulturzentren, die eine wichtige Funktion im Prozess der Vergemeinschaftung übernehmen und erfüllen damit in geradezu idealtypischer Weise auch die Funktion eines „dritten Ortes“. Und in der Tat, in den letzten Jahren sind einige spektakuläre Bibliotheksbauten entstanden, die dieser Funktion entsprechen könnten. Und diese werden intensiver genutzt als je zuvor.Allerdings kann man es auch anders sehen. Aus England habe ich schon vor Jahren gehört, dass dort der Aufbau von „iconic libraries“ auf Kosten all der kleineren Stadtteilbibliotheken ging, die reihenweise geschlossen wurden. Das wäre statistisch zu konkretisieren, was ich nicht leisten kann. Als vor 10 Jahren die New York Public Library radikal umgebaut werden sollte, protestierten Intellektuelle weltweit gegen die Entfernung vieler Bücher aus den Kellergeschossen und wandten sich gegen eine (angebliche) Verwandlung des Geisteszentrums in eine Sozialstation.Vgl. etwa https://www.deutschlandfunk.de/new-york-publik-library-und-der-schritt-in-die-zukunft-100.html. Bei den absehbaren finanziellen Langzeitfolgen von Pandemie und Krieg dürfte im Übrigen angesichts weltweit steigender Schuldenstände der Spielraum zukünftig auch eher kleiner werden und das gilt auch noch über das Jahr 2040 hinaus. Da wird man sich noch andere Gedanken über den Sinn von Bibliotheken machen müssen.Meine kurzen Überlegungen gehen im Folgenden von einer Eigenheit der digitalen Medien aus, die in meinen Augen auch in anderen mit der Digitalisierung beschäftigten Kulturinstitutionen noch zu wenig berücksichtigt wird, z. B. in den Museen, aber auch den Universitäten. Diese digitalen Medien nämlich sind fluide, sie stehen nicht wie ein Ding im Regal, hängen an der Wand oder werden vom Podium herab verkündet, sondern schreien geradezu nach Bearbeitung und Überformung. Interaktivität wäre der Begriff, der hierfür im Digitalen gewöhnlich verwendet wird. Für die Bibliotheken heißt das, dass ihre Inhalte – also Bücher, aber auch visuelle und Audioartefakte – nicht mehr nur lesend und anderweitig konsumiert, sondern bearbeitet, kommentiert und verändert werden.IVIch stelle mir vor, dass im Jahr 2040 viele Bibliotheken Angebote machen, um diese Tätigkeiten zu organisieren. Auf umfangreichen Crowdsourcing-Seiten wird man Bücher, Bilder, Musikstücke annotieren, kommentieren, weiterschreiben und kritisieren. Schon jetzt gibt es im Internet eine Reihe von Angeboten, auf denen zuweilen Hunderttausende von meist Jugendlichen auf originelle Weise lesend und schreibend aktiv sind und sich dabei durchaus von klassischen Autor*innen faszinieren lassen.Vgl. hierzu vor allem Lauer (2020). Warum nicht als Bibliotheksangebot? KI-gesteuerte Programme werden die Suche nach ähnlichen Texten und Bildern ermöglichen und neue Analytiken zur Verfügung stellen. Man kennt das aus Recommender-Systemen, aber auch im Bildungsbereich werden solche Angebote ihre Wirkung entfalten, dabei allerdings auch klassische bibliothekarische Kategorisierungsaufgaben überflüssig machen. Mit komplexer Editions-Software wird es möglich, kooperativ individuelle Veröffentlichungsangebote zusammenzustellen. Programme wie omekawww.omeka.org. erlauben das gemeinschaftliche Erstellen von Ausstellungen im Netz. Und all das dürfte nur der Anfang sein. Solche Angebote wird man von zuhause aus bearbeiten können, aber da, wo es weniger um rezeptives (wie beim Lesen) als um produzierendes Verhalten geht, zeigt die Erfahrung, dass hier meist Gruppenaktivität in real life gewünscht ist, die besser in der Bibliothek selbst zu realisieren ist. Das zieht allerlei Konsequenzen nach sich: Neben die Räume der Stille treten vermehrt Räume des Austausches. Die Bibliothek wird tendenziell zu Museum, zu Schule und Universität, darüber hinaus aber auch zu etwas, das von Rechenzentren nicht mehr so deutlich zu unterscheiden ist.VWie gesagt, das Problem ist kein exklusiv bibliothekarisches, es betrifft auch andere Institutionen. Die Museen täten gut daran, das Internet nicht nur für eine tendenziell langweilige Verlängerung oder virtuelle Verdoppelung der analogen Bestände zu nutzen, sondern diese Bestände im Netz von den Besuchern vielfältig überformen zu lassen, z. B. auch Spielmöglichkeiten zu eröffnen. In den Universitäten macht es keinen Sinn, alte Lehrformate einfach ins Netz zu übertragen. Hier spricht man z. B. von „blended learning“, bei dem die virtuelle Lehrveranstaltung weitgehend für Interventionen der Studierenden genutzt wird, die sich den Stoff schon vorher zu eigen gemacht haben.Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2040 einiges von diesen Perspektiven verwirklicht haben werden. Dabei beruht meine Vermutung, dass sich hierfür die physische Bibliothek anbietet, die dann vielleicht gar nicht mehr so heißen wird, auf der Hoffnung, dass körperliche Anwesenheit in kollaborativen Arbeitsumgebungen unverzichtbar ist, dass alles Digitale auf das Physische zurückverweist und dieses nicht restlos ersetzt. Sicher bin ich mir mit dieser Hoffnung nicht. Aber dann wäre es ja auch keine Hoffnung mehr, sondern Gewissheit.

Journal

BIBLIOTHEK Forschung und Praxisde Gruyter

Published: Apr 30, 2023

Keywords: Bibliothek der Zukunft; Digitalisierung; Crowd Sourcing; Library of the future; digitization; crowd sourcing

There are no references for this article.